Gastkommentar

Eindämmung statt Ausmerzung – warum den Europäern in Sachen Corona das Lernen von Ostasien so schwer fällt

Blickt man auf den Umgang mit der Corona-Pandemie, fällt auf, wie glücklos der Westen und wie erfolgreich Ostasien agiert. Wie oft hat man gelesen, Europa müsste von Taiwan oder Südkorea lernen. Getan aber hat sich wenig. Wo liegen die Gründe?

Marina Rudyak, Maximilian Mayer und Marius Meinhof 32 Kommentare
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In Vietnam sind nach offiziellen Angaben bisher nur 35 Menschen an Covid-19 gestorben. – Strassenszene in Hanoi.

In Vietnam sind nach offiziellen Angaben bisher nur 35 Menschen an Covid-19 gestorben. – Strassenszene in Hanoi.

Linh Pham / Bloomberg

«Wir müssten nicht an diesem Punkt sein», lautet das Urteil der Virologin Isabella Eckerle zum zweiten Lockdown in der deutschen Talk-Sendung «Hart, aber fair». Eckerle, die das Zentrum für neuartige Viruserkrankungen am Universitätsklinikum Genf leitet, widerspricht damit all denjenigen, die betonen, man wisse noch immer nicht genau, wie man mit dieser Pandemie umgehen solle. Als sie auf die erfolgreichen Ansätze in Asien hinweist, wird sie von dem Moderator Frank Plasberg unterbrochen – da gebe es ja China, und «die halten sich mit Demokratie nicht so lange auf».

Plasbergs reflexhafter Verweis auf China ist beispielhaft für eine in Europa weitverbreitete ablehnende Haltung gegenüber den ostasiatischen Strategien im Umgang mit der Corona-Pandemie. Einmal betont man, wie in der Debatte um Masken im Frühjahr, die Andersartigkeit der asiatischen Kulturen, gerne unter Bezugnahme auf den Konfuzianismus oder den Kollektivismus. Ein anderes Mal echauffiert man sich über den chinesischen Überwachungsstaat. Nur weiter bringt uns dieser Abwehrreflex nicht.

Zurück zur Normalität

Tatsache ist, dass ostasiatische Gesellschaften weitgehend zur Normalität zurückgekehrt sind. Am 31. Oktober feierten in Taiwan 130 000 Menschen Asiens grösste LGBTQ-Parade Taiwan Pride. Insgesamt sind seit Beginn der Pandemie in Taiwan 7 Menschen an Covid-19 gestorben, seit über 200 Tagen gibt es keine Neuansteckungen. In Südkorea gibt es täglich um die 100 Neuinfektionen. In beiden Ländern war kein Lockdown nötig. In Vietnam, das knapp 30 Millionen mehr Einwohner als Frankreich zählt, sind nur 35 Menschen gestorben – in Frankreich sind es über 40 000. Auch China ist es, bei aller berechtigten Kritik an den Versäumnissen in der Anfangsphase, gelungen, den Ausbruch des Virus in Wuhan praktisch vollständig unter Kontrolle zu bringen. Dort finden Kongresse wieder offline statt, die Wirtschaft erholt sich rasch.

Lieber alle wieder in den Lockdown als eine wirksame App auf dem Handy oder die digitale Überwachung der Quarantäne einiger weniger.

Ziel der massiven Grundrechtseinschränkungen im Frühjahr war es, Zeit zu gewinnen und die Infrastruktur aufzubauen, um die Pandemie danach unter Kontrolle zu halten. Warum haben die ostasiatischen Länder dies geschafft und wir nicht?

Während ostasiatische Regierungen sich auf das schnelle Austreten der Glutnester konzentrierten, gerieten in Europa während der sommerlichen epidemiologischen Entspannung lokale Hotspots ausser Kontrolle. Dort wurde massenhaft und durch die öffentliche Hand finanziert getestet, hierzulande waren Corona-Tests nur begrenzt verfügbar und mussten teilweise privat bezahlt werden. Wo in Ostasien ein frühes und konsequentes Infektionsketten-Tracing auch mittels Big Data umgesetzt wurde, hinkt in Europa die digitale Vernetzung im Gesundheitswesen stark hinterher. Trotz der europäischen Datenschutzgrundverordnung, die den weltweit strengsten Schutz der Privatsphäre bietet, herrscht gegenüber digitalen Technologien grosses Misstrauen: Lieber alle wieder in den Lockdown als eine wirksame App auf dem Handy oder die digitale Überwachung der Quarantäne einiger weniger. Auch der irrationale Skeptizismus gegenüber Gesichtsmasken besitzt kein Pendant in Ostasien.

Prinzip der Ausmerzung

Experten in Europa und Ostasien setzten von Anfang an auf unterschiedliche Ansätze. Nach den Erfahrungen mit Sars im Jahr 2003 verfolgten die ostasiatischen Länder das «Unterdrückungsmodell». Nach dem gleichen Fahrplan strebte Australien auf Rat seiner grössten Universitäten hin danach, die Neuinfektionen möglichst vollständig zu unterbinden – mit Erfolg. In europäischen Staaten hingegen schien selbst die prinzipielle Möglichkeit der Virusausmerzung unvorstellbar oder zumindest unpraktisch. Stattdessen stellten Epidemiologinnen das bekannte «Influenzamodell», gemäss dem sich das Virus nicht stoppen lasse und letztlich eine langsame globale Durchseuchung akzeptiert werden müsse, als alternativlos dar.

Dass es überhaupt diese beiden gegensätzlichen Ansätze gibt, taucht im öffentlichen euro-amerikanischen Pandemiediskurs kaum auf. Die erfolgreichen Beispiele aus Taiwan, Südkorea, Vietnam, China oder der Mongolei werden ausgeblendet, die grossen Erfolge in der Pandemiebekämpfung pauschal mit dem Verweis auf die Insellage oder die Autokratie abgetan.

Statt einer gesunden Portion Neugier darauf, welche politischen, organisatorischen, technischen und medizinischen Massnahmen den fulminanten Erfolg gegen Covid-19 in Asien ermöglicht haben, dominiert Ignoranz. Man müsse sich nicht wirklich mit «deren» Massnahmenkatalog auseinandersetzen. So verlagert die reflexartige China-Skepsis die Debatte unversehens von einem rationalen und pragmatischen Lernprozess, wie man die Pandemie effizienter in den Griff bekommen könnte, hin zur Frage der anfänglichen Schuld oder zum erhobenen Zeigefinger der Systemkritik.

Gewiss, die Vorbehalte, vom autoritären China zu lernen, sind verständlich, zumal in der gegenwärtig aufgeladenen geopolitischen Stimmung. Doch Südkorea und Taiwan sind liberale Demokratien. Und selbst im Einparteistaat China liessen sich anpassbare Erfahrungswerte auffinden. Eine pauschale Abgrenzung von Demokratie und Autoritarismus macht ein differenziertes Verstehen der chinesischen Massnahmen schlicht unmöglich.

Habitus der Überlegenheit

Dabei gibt es europaweit in Universitäten und Think-Tanks genügend Asienexperten, die dabei hätten helfen können, die erfolgreichen Ansätze von Taipeh bis Seoul einzuordnen. Jene mit entsprechenden Sprachkenntnissen haben den Corona-Ausbruch in Asien aufmerksam verfolgt. Nur sind sie während der Pandemie kaum angefragt worden. Ein Blick auf die europäischen China-Twitterer im Januar hätte genügt, um zu erkennen, was auf Europa zukommen würde.

Die intuitive Polemik gegen das autoritäre Regierungssystem Chinas und das hartnäckige Ausblenden der asiatischen Erfolgsmodelle lassen sich am besten mit dem Begriff des epidemischen Orientalismus erklären. Er beschreibt eine Geisteshaltung, die jegliches Lernen vom Gegenüber ausschliesst, weil das orientalische Andere als fremd und minderwertig gilt. Asien kann somit niemals als Vorbild, sondern nur als Folie für die ideologische Abgrenzung dienen. In Talkshows und in den Krisensitzungen von Bern bis Berlin fanden so weder das «Unterdrückungsmodell» noch die detaillierte epidemiologische Expertise von Wissenschaftern aus Ostasien Gehör. Die Chance wurde vertan, ernsthaft darüber zu diskutieren, wie alternative Methoden der Kontaktsuche oder lokale Massentests im europäischen Kontext umgesetzt werden könnten.

Unser Umgang mit Covid-19 scheitert daher auch aufgrund orientalistischer Vorurteile und des Habitus der Überlegenheit. Eine Haltung, die dem Selbstbild von liberalen, aufgeklärten Gesellschaften eigentlich diametral entgegensteht. Denn wären nicht gerade die öffentliche Diskussion verschiedener Ansätze und die Lernfähigkeit unsere Stärke? Europäische Regierungen hätten im Frühjahr einen Dialog mit führenden ostasiatischen Fachleuten aufnehmen können. Schon damals zeichnete sich ab, dass es sich lohnt, in dieser Boom-Region nach replizierbaren Konzepten und Instrumenten zu suchen. Stattdessen befinden wir uns jetzt in einem zweiten Lockdown, dessen sichere Beendigung nicht absehbar ist. Isabella Eckerle hat schon recht: An diesem Punkt müssten wir nicht sein.

Marina Rudyak ist akademische Mitarbeiterin am Centrum für Asienwissenschaften und Transkulturelle Studien der Universität Heidelberg. Maximilian Mayer ist Juniorprofessor für internationale Beziehungen und globale Technologiepolitik am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Marius Meinhof ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.

32 Kommentare
Wolfgang Ratzel

Mein herzliches Dankeschön an die drei Autor:innen für einen Kommentar, auf den ich seit langem warte. Ich vertrete Ihre Meinung in Gesprächskreisen und Gesprächsvorträgen zweier Berliner Volkshochschulen und stoße einerseits auf Zustimmung, häufiger aber auf genau das, was Sie "orientalistische Vorurteile" bezeichnen, was umso paradoxer wirkt, wenn auch die COVID-19-Unterdrückungsmodelle "neueuropäischer" Gesellschaftssysteme wie Australiens und Neuseelands "verdrängt" werden. Wie erklären Sie dieses Paradoxon? Wir Alteuropäer:innen sollten schnellstmöglich unsere ideologischen Brillen absetzen und uns angewöhnen, ein Gesellschaftssystem danach zu beurteilen, ob es in der Lage ist, adäquate Antworten auf die großen Probleme unserer Zeit zu geben. Ach ja: In die Liste der Vorbild-Staaten sollten Sie vielleicht noch Neuseeland aufnehmen.

Tomas Poledna

Ganz herzliche Gratulation an die Verfasser des Beitrags. Taiwan hatte bereits Ende Dezember 2019 (!) ein umfassendes Handbuch für den Umgang mit der Pandemie bereit, das dann auch einen Monat später Public Domain ging. Es wurde in Taiwan offenbar erfolgreich umgesetzt und hat den asiatisch-pazifischen Raum inspieriert. Von einer europäischen hochstehenden Wissenschaft (und Gesellschaft) würde man gerade erwarten, dass man sich mit Strukturen, Ideen und Vorgehensweisen unvoreingenommen befasst und nicht zuviel Energie verwendet, die Unterschiede herzuheben. Vieles heute macht den Eindruck, dass die nötige Offenheit verloren gegangen ist und man nur versucht darzulegen, wieso etwas nicht gehen soll und sucht mögliche Unterschiede. Und: Das in China erfundene Papier ist auch in dieser Hinsicht geduldig.