Genug gewartet – fünf Schritte aus der Pandemie – Seite 1

Die Autorinnen und Autoren gehören zu den Wissenschaftlerinnen und Medizinern, die die sogenannte No-Covid-Strategie entworfen haben. Hier schildern sie, welche Maßnahmen sie in der aktuellen Pandemiephase für nötig halten.   

Lockdown light, Lockdown hard und nun Brücken-Lockdown – an Wortschöpfungen mangelt es in der Pandemie nicht. Es fehlt dagegen an mutigen Entscheidungen und der Akzeptanz unbequemer Tatsachen. Was es jetzt dringend bräuchte, wäre ein proaktiver Umgang mit der Krise und ein strategisches Ziel, das Deutschland bei der Pandemie-Bekämpfung in den kommenden Monaten verfolgt. Momentan taugen nicht einmal die Zwischenziele. Die kürzlich vorgeschlagene und schnell belächelte "Brücke" etwa wäre viel zu kurz, um ans rettende Ufer zu führen: Zwei bis drei Wochen werden bei Weitem nicht genügen, um einen ausreichenden Teil der Bevölkerung zu impfen und die Schwelle der Herdenimmunität zu erreichen. Bislang haben nicht einmal zehn Prozent der Menschen im Land einen vollen Impfschutz nach zwei Dosen. Auch würden die Fallzahlen nach vierzehn Tagen keineswegs auf einem Niveau liegen, das dauerhafte und umfassende Öffnungen erlaubt.

Das lehren die jüngsten Öffnungsschritte, die Bund und Länder ungeachtet aller Warnungen vor der neuen Virusvariante B.1.1.7 und trotz steigender Inzidenzen beschlossen haben. Zuvor hatten bereits Bundesländer wie Hessen, Niedersachsen und Berlin im Bildungswesen die allgemein gesetzlich vorgeschriebene Grenze der Sieben-Tage-Inzidenz von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner für hinfällig erklärt, ab der schärfere Eindämmungsmaßnahmen folgen müssten. Danach folgten andere Länder wie Bayern und das Saarland, die mit neuen Regeln für den Einzelhandel die beschlossene Notbremse quasi aushebelten. Mit diesem Mosaik aus faulen Kompromissen hat uns die Politik in eine neue Pandemiewelle gesteuert. Nun fragen sich viele Menschen zu Recht, ob sich Deutschland vollends verirrt hat – und blicken zermürbt und besorgt auf die nächsten Monate.

Coronavirus - Was Corona-Mutanten so ansteckend macht Virusmutationen können eine Pandemie verändern. Wie solche Varianten entstehen, wann sie gefährlich sind und was sie für Impfungen bedeuten, erklären wir im Archiv-Video.

Der weltweite Status quo verheißt nichts Gutes. Weitere Infektionswellen erfassen selbst Länder wie Chile oder die USA, die eine vielfach höhere Impfquote aufweisen. In Deutschland steigen die Test-Positivitätsrate und die Zahl der belegten Intensivbetten wie prognostiziert an. Und das, obwohl die Kontakte bereits deutlich reduziert sind. Mancherorts gelten sogar Ausgangsbeschränkungen, während große Teile der Gastronomie und des Kulturbetriebs seit Monaten verriegelt sind. Erste Schulen und Kitas – die in den vergangenen Monaten ohnehin nie richtig in den Normalbetrieb zurückgefunden hatten – schließen wieder oder gehen in den Notbetrieb.

Melanie Brinkmann ist Professorin für Virologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. © Verena Meier/​HZI

Zum wiederholten Male müssen die Bevölkerung und die Unternehmen für die Versäumnisse eines Staates büßen, der in einem Jahr Pandemie erschreckend apathisch und einfallslos geblieben ist. Impfungen in Hausarztpraxen? Nur mit großer Verzögerung. Selbsttests für zu Hause? Skepsis statt Aufklärung. Alternativen zu Kitas und Homeschooling durch Eltern? Es werden Debatten um die Infektiosität von Kindern geführt statt Bildungsinnovationen einfach einzuführen.

Noch immer ist der Fortschritt beim Impfen langsam, fehlt eine umfassende Teststrategie, läuft die Digitalisierung der Kontaktnachverfolgung schleppend. Die jüngste, rein politisch motivierte Öffnungsrhetorik ist kontraproduktiv. Dasselbe gilt für das Konzept von "Modellregionen", die mitten in der dritten Welle und mangels wissenschaftlicher Begleitung zum Scheitern verurteilt sind. Zu einem besseren Zeitpunkt in der Pandemie hätten diese Modellprojekte hingegen großes Potenzial. Insgesamt ist allerdings kein Exit-Plan in Sicht, der die Grundrechte schont und auch langfristig Aussicht auf Erfolg hat.

Denise Feldner ist Wirtschaftsjuristin, Wissenschaftsmanagerin und eine Autorin der No-Covid-Strategie. © privat

Gewiss stellen Entscheidungen in einer höchst unsicheren Lage eine Zumutung dar, denn ihre Konsequenzen sind kaum absehbar. Das Verzögern von Entscheidungen kann jedoch ebenfalls hohe soziale Kosten verursachen. Handeln die Länderregierungen weiterhin bürokratisch träge, unabgestimmt und von der vergeblichen Hoffnung geleitet, sich bis zur Durchimpfung der Bevölkerung durchwurschteln zu können, werden nicht nur die nächsten Monate furchtbar. Auch das "Danach" könnte sich immer weiter nach hinten verschieben und mitnichten so stabil werden, wie bisweilen suggeriert wird.

Mit der B.1.1.7-Variante haben wir bereits jetzt ein Virus, das ansteckender und tödlicher ist – Länder, die stringent Niedriginzidenzen anstrebten, haben dieses Problem nicht. Dort konnten die Behörden längst alle Lebensbereiche wieder öffnen und haben viel weniger Todesopfer zu beklagen. Die Folgen der Mittelinzidenz-Strategie in Europa wiegen schwer, denn die Schwelle für eine impfinduzierte Herdenimmunität liegt umso höher, je ansteckender ein Virus ist. Entsprechend wird eine Impfabdeckung von 60 bis 70 Prozent, wie ursprünglich geschätzt, nicht ausreichen, um die Dynamik dieser neuen Pandemie zu stoppen. 

Ohnehin werden rund vierzehn Millionen Kinder und Jugendliche (etwa 17 Prozent der Bevölkerung) auf absehbare Zeit ungeimpft bleiben und damit auch mögliche Überträger des Virus bleiben. Hinzu kommt, dass sich nicht alle Erwachsenen impfen lassen können oder wollen und, was nicht übersehen werden darf, dass ein Löwenanteil der Weltbevölkerung erst in den nächsten Jahren genügend Impfstoffe erhalten wird.

Niemand weiß, welche Virusvarianten noch auftauchen

Die neuen Virusvarianten zeigen, wie groß der Kontrollverlust der politisch Verantwortlichen ist. Weil das Ausbruchsgeschehen immer komplexer wird und die Zahl neuer Risiken steigt, werden auch Vorhersagen schwieriger. Niemand weiß, wie viele (und welche) weitere Varianten noch auftauchen, insbesondere, wenn die steigende Immunität der Bevölkerung das Virus unter Selektionsdruck setzt. Sollten sich bestimmte Mutanten als impfresistent erweisen, kann es zu einem langwierigen Pingpongspiel zwischen Viren und Impfungen kommen. Denkbar sind auch Mutanten, die sich nicht mehr mit gängigen Testverfahren entdecken lassen. Nur gezieltes und vorausschauendes Handeln, das die Virusverbreitung drastisch einschränkt, kann solche bösen Überraschungen vermeiden.

Clemens Fuest ist Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München und Professor für Volkswirtschaftslehre an der LMU München. © privat

Statt viel zu früh Debatten über Privilegien für Geimpfte anzustoßen, sollte sich die Bundesregierung jetzt der zentralen Frage widmen: Wie soll der Weg aus dieser Krise aussehen? Wollen wir diesem Virus wirklich Raum geben, obwohl die meisten von uns noch nicht davor geschützt sind? Wollen wir die bisherige Gratwanderung fortsetzen, bei der die Intensivbetten mit mehr und mehr jüngeren Menschen gefüllt, aber nicht überfüllt sind? Damit würde Deutschland ein Dauer-Lockdown drohen, mit vielen toten und kranken Bürgerinnen und Bürgern, einem entkräfteten medizinischen Personal und einer schwindenden Zahl an Pflegekräften.

Oder will man Leben und Gesundheit schützen, weitere Lockdowns vermeiden, die Gesellschaft und die gesamte Wirtschaft weniger schädigen? ­Dann kann es nur ein Ziel geben: eine dauerhafte Niedriginzidenz. Ein Blick in die Niedriginzidenz-Länder Australien, Vietnam, Thailand, China, Südkorea, Japan, Finnland, Norwegen und Island macht schnell deutlich, welcher Kurs der bessere ist.

Maximilian Mayer ist Junior-Professor für Internationale Beziehungen und globale Technologiepolitik an der Universität Bonn. © privat

In jedem Fall ist es unerlässlich, das staatliche Pandemiemanagement auf ein neues Niveau zu heben. Ein rascher und konsequenter Lockdown würde kurzfristig die Inzidenzen senken. Doch statt passiv abzuwarten und nur auf die nötige Beschleunigung beim Impfen zu setzen, sollten Bund und Länder sofort versuchen, die Infektionen mit einem Bündel von Maßnahmen gezielt unter Kontrolle zu bringen:

  • Großflächige Public-Health-Screenings: In mehreren bundesweiten Test-Wochen sollten alle Menschen aufgefordert werden, sich im Abstand von zwei bis drei Tagen mittels gut evaluierter Antigen-Schnelltests selbst zu testen oder in Testzentren per PCR testen zu lassen. In Hotspots sollten zudem mobile Teams konsequent alle Bewohnerinnen und Bewohner durchtesten. Weil versteckte Infektionen dabei schnell erkannt werden, lassen sich Inzidenzen effektiv senken, wie Modellierungen zeigen (mexRxiv, Larremore et al., 2020).
  • Testen in Kontaktnetzwerken: Alle Schulen, Kitas und Betriebe benötigen Hilfe, um individuelle Testsysteme zu entwickeln und aufzubauen. Ein wichtiger Schritt ist die Kopplung von Test- und Präsenzpflicht an Schulen, wie sie etwa in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein gilt. Alle Personen, darunter insbesondere unvermeidbare Pendler, müssen dauerhaft Zugang zu mindestens drei Schnelltests pro Woche bekommen – je nach Infektionslage auch noch häufiger.
  • Motivation: Mit einer mehrwöchigen Aufklärungskampagne sollte das Gesundheitsministerium die Bevölkerung über das Testen informieren – in Radio und Fernsehen zur besten Sendezeit sowie in den Print-, Online- und sozialen Medien. Gleichzeitig sollten Landräte und Bürgermeisterinnen mit Informationsmaterialien zu Tests und Quarantäne unterstützt werden, die auch der kulturellen und sprachlichen Vielfalt Deutschlands gerecht werden.
  • Kontrolle des Eintrags von außen: Einreisende nach Deutschland müssten vor ihrer Abreise einen PCR-Test machen lassen, nach ihrer Ankunft in Deutschland sofort in Quarantäne gehen und sich nach fünf Tagen erneut testen lassen. Für Berufspendler, Lieferanten und in Härtefällen könnten Ausnahmen gelten. Die aktuelle Regelung, die lediglich einen negativen Test vor der Abreise und eine Quarantäne nur für Einreisende aus Risikogebieten vorsieht, ist nicht wirksam und daher untauglich. Außerdem sollten lokale Behörden, dem Beispiel Taiwans folgend, mithilfe eines speziellen Taxi-Systems sicherstellen, dass Einreisende nicht auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen müssen.
  • Isolation: Damit das Testen seine Wirkung entfalten kann, müssen die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen wie Lohnfortzahlung und Arbeitsplatzsicherheit so verändert werden, dass sich positiv getestete Personen und ihre Kontakte umgehend selbst isolieren können. Während der Selbstisolation sollten die Menschen durch eine Quarantänebegleitung psychologisch unterstützt werden. Hierfür ließen sich etwa Kirchengemeinden oder Vereine aktivieren. Zudem bräuchte es externe Unterbringungsangebote in Form von Quarantänehotels, wie sie in anderen Ländern längst üblich sind. Nur dann können sich auch Menschen, die in beengten Wohnverhältnissen leben, sicher isolieren.

Leserkommentar Original-Kommentar anzeigen

Schöner Artikel. Bringt's auf den Punkt. Ich würde als Wissenschaftler selber noch anfügen: Das Virus verhält sich seit seinem Ausbruch genau so, wie ein Virus sich eben nunmal verhält. Wir haben im vergangenen Jahr kaum etwas überraschendes gesehen. Es wäre schön, wenn das jeder mal klar zur Kenntnis nimmt und wir dann über zugegebenermaßen unangenehme, aber vielleicht wirklich gangbare Lösungen diskutieren!


Corona-Schnelltests - So funktionieren die Selbsttests für zu Hause Corona-Schnelltests für Laien gibt es von verschiedenen Herstellern. Wir zeigen, wie sie korrekt angewandt werden, und erklären, was sie leisten können – und was nicht.

Den richtigen Moment für das Lockdown-Ende bestimmen

Damit dieser Lockdown der letzte ist, sind noch weitere Maßnahmen nötig. Die Ausweitung der Testaktivitäten ist als Soforthilfe gedacht und muss in eine umfassende Teststrategie eingebettet werden, die künftig auch als Frühwarnsystem gegen Ausbrüche wirkt. Eine andere drängende Baustelle ist die Digitalisierung der Kontaktnachverfolgung und Quarantäneanordnungen, die oftmals immer noch zu langsam und unvollständig erfolgen. Zwar haben mehr als 300 Gesundheitsämter die Software Sormas zum Kontaktpersonenmanagement installiert, doch nur ein Drittel der Ämter nutzt sie tatsächlich. Und das für die kreisübergreifende Vernetzung ausschlaggebende Sormas-X-Update steckt noch immer in der Versuchsphase. Der digitale Instrumentenkasten der Gesundheitsbehörden muss jetzt also mit aller Kraft ausgebaut und breiter vernetzt werden, damit die Kontaktnachverfolgung nach dem Lockdown smarter ist als vorher. Das würde enorm dazu beitragen, den R-Wert zu senken, der unter eins liegen muss, um die Pandemie wieder kontrollieren zu können.

Elvira Rosert ist Junior-Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik. © privat

Um das kommunikative Durcheinander zu beenden, ist es schließlich entscheidend, den richtigen Moment für einen Ausstieg aus dem Lockdown zu bestimmen. Anders als bisher, sollte dieser nicht an politisch opportunen Terminen ausgerichtet sein, sondern an der Datenlage und einer nachvollziehbaren Strategie. Im Voraus formulierte niedrige Zielinzidenzwerte helfen, dem Öffnungsdruck standzuhalten und nicht erneut zu früh zu lockern.

Nach der No-Covid-Strategie sollten Kreise die Sieben-Tages-Inzidenz von zehn nicht überschreiten. Dabei sollte es zudem keine Corona-Fälle unbekannten Ursprungs geben – ein Ziel, das durch digitalisierte Kontaktnachverfolgung und bei niedrigen Fallzahlen erreichbar ist. Zwar könnten etwa Schulen auch schon öffnen, bevor die Zielmarke lokal erreicht ist, sofern die Öffnung durch systematisches Testen abgesichert wäre, aber das ginge nur bei sinkenden und deutlich niedrigeren Inzidenzen als heute. 

Grundsätzlich sollten Öffnungsschritte erst dann erfolgen, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen sind, die Niedriginzidenz auch dauerhaft zu halten. Wie die vergangenen Monate in fast allen europäischen Ländern gezeigt haben, führen Öffnungen bei hoher Inzidenz geradewegs in den nächsten Lockdown.

Matthias Schneider ist Professor für Physik und leitet die Abteilung Medizinische und biologische Physik an der TU Dortmund. © privat

Das Fundament all dieser Maßnahmen bildet eine klar kommunizierte, gemeinsame Perspektive: Die Pandemie wird entschieden bekämpft, um die ganze Bevölkerung zu schützen und die Ursache für die pauschale Grundrechtseinschränkungen zu beseitigen.

Jetzt steht vor allem der Staat in der Pflicht. Die Bürgerinnen und Bürger sollten genau wissen, wozu ihre neuen Anstrengungen dienen und ob sie sich darauf verlassen können, dass die Länder und der Bund sich tatsächlich an die eigenen Vorgaben halten. Nur so kann ein neuerlicher Kraftakt trotz wachsenden Misstrauens die notwendige breite Unterstützung in der Bevölkerung finden.

Föderalismus - Wie Bund und Länder um Corona-Regeln streiten Der Infektionsschutz ist Aufgabe der Bundesländer. Doch Daten zeigen: 2020 orientierten sich die Corona-Maßnahmen kaum an den Neuinfektionen. Ein Erklärvideo