Es ist Montagabend, kurz nach einem Termin mit dem Kanzleramt und der Ministerpräsidentenrunde. Eine Reihe von Wissenschaftlerinnen und Forschern war geladen, um über die Corona-Lage zu beraten. Nun treffen sich zwei davon noch einmal zur Videokonferenz auf Zoom, andere, die dasselbe Ziel haben, stoßen dazu. Sie alle haben die Nächte am Wochenende durchgearbeitet, fast wie im Rausch ein Papier zusammengeschrieben, das erklärt, wie Deutschland endlich aus dieser Pandemie herauskommen soll. Es ist, wenn man so will, der Prototyp eines Masterplans. Sie nennen es No Covid. Der Appell, den die Gruppe an die Regierenden formuliert, ist klar: Lasst uns keine halben Sachen mehr machen, lasst uns nicht ständig nur reagieren, lasst uns dieses Virus endlich besiegen. Gemeinsam. Ihr Vorschlag trifft auf Politikerinnen und Politiker, die am Dienstagabend wieder nur leichte Verschärfungen und Verlängerungen beschließen werden.

Dieses schon befürchtete Weiter-wie-bisher löst in der Gruppe Sorge und Kopfschütteln aus. Ein jeder an seinem heimischen Schreibtisch sitzend, im gefühlten Dauerlockdown: Die Virologin Melanie Brinkmann ist da, der Internist Michael Hallek, die Politologen Maximilian Mayer und Elvira Rosert und die Physiker Michael Meyer-Hermann und Matthias Schneider. Andere Unterstützer des No-Covid-Papiers stammen aus der Wirtschaftswissenschaft, aus der Pädagogik, aus der Soziologie oder aus der Rechtswissenschaft. Es mangelt nicht an großen Namen. Was während des Zoom-Gesprächs schnell klar wird: Hier dominiert keine Fachdisziplin. Die Teilnehmenden ergänzen sich, anstatt sich zu widersprechen. Es ist für die Wissenschaft ein rarer Moment, in dem Argumente nicht an Fächergrenzen zu Fall kommen, sondern im Gegenteil an Kraft gewinnen.

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No-Covid-Plan : Das Strategiepapier im Wortlaut

Infektionen auf null senken, virusfreie Zonen schaffen sowie Neuausbrüche rigoros bekämpfen: Das sind die Ziele der No-Covid-Strategie. Lesen Sie das Papier im Original.

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Ihr gemeinsamer Antrieb ist eine fundamentale biologische Einsicht über das Virus: Es gibt nur zwei Wege, mit ihm umzugehen. Entweder man lässt es durch eine Bevölkerung durchlaufen, was zu sehr großen Opfern – vielen, vielen Toten und wirtschaftlichen Schäden – führt. Oder man drängt es radikal zurück – solange man kann. Während Deutschland auf die gerade beschlossenen Maßnahmen schaut, geht es den Expertinnen und Experten in der Zoom-Schalte um etwas anderes. Um eine echte Perspektive.

Und um es gleich aus der Welt zu schaffen: Die Autorinnen plädieren nicht pauschal für immer härtere Maßnahmen oder dafür, Deutschland für wenige Woche komplett lahmzulegen, um das Virus – bei großen Kollateralschäden – förmlich zu zerquetschen. Auch wenn No Covid erst mal danach klingen mag. Stattdessen formuliert die Gruppe einen Langzeitanspruch an die Regierenden. Und sie sagen klar: Es ist ernst, wir haben nicht mehr viel Zeit, wollen wir nicht von einer riesigen dritten Welle überschwemmt werden. Es sind, neben vielen anderen Aspekten, die wohl deutlich ansteckenderen Virusvarianten B.1.1.7 und B.1.3.5.1, die ihnen Sorgen bereiten. Wenn die sich hierzulande ausbreiten, "würde uns das in eine ganz andere Welt katapultieren", sagt etwa der Modellierer Michael Meyer-Hermann an diesem Abend.

Dass der Lockdown fortgeführt werden muss, darin sind sich alle einig. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lassen sich die Infektionszahlen eben nur mit Kontaktbeschränkungen senken. Michael Hallek, in der deutschen Universitätsmedizin eine Instanz und jemand, der seine Worte sorgsam wählt, sagt aber auch, der jetzige Lockdown müsse "effizienter" werden. "Und vor allem muss klar sein, warum wir ihn machen. Er muss sich lohnen." Um das zu erreichen, formulieren die Wissenschaftlerinnen ein klares Ziel: ein Rennen auf die Null zu.

So lange wie nötig, so kurz wie möglich

Die Strecke ist dabei eine in Etappen. Zunächst sollen die Fallzahlen durch einen klügeren Lockdown auf eine Inzidenz von weniger als zehn gedrückt werden, etwa mit mehr Homeoffice und anhaltenden Schulschließungen. Würde man all diese Maßnahmen dann auch konsequenter umsetzen, dauere das mit der bislang hierzulande verbreiteten Virusvariante bis etwa Anfang März, sagt Michael Meyer-Hermann, der für das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung den Pandemieverlauf seit Beginn modelliert.

Sobald die Inzidenz unter zehn liege, könnte das No-Covid-Konzept greifen, das vor allem auf den theoretischen Physiker Yaneer Bar-Yam zurückgeht. Die Ideen des Direktors des New England Complex Systems Institute im US-amerikanischen Cambridge setzten bereits Australien und Neuseeland erfolgreich um, die Covid-19 weitestgehend im Griff haben. Matthias Schneider von der TU Dortmund sagt während des Zoom-Gesprächs (lesen Sie hier seinen Gastbeitrag zum Thema), dass es von diesem Moment an noch circa drei bis vier Wochen dauere, bis man das Virus nahe null gedrückt habe.

Um das zu erreichen, helfe ein Zonensystem. Regionen, in denen es keine Infektionen mehr gebe, würden zu grünen Zonen erklärt. In diesen grünen Zonen kann die Bevölkerung schrittweise zur Normalität zurückkehren, ins Café und ins Konzert gehen, sich wieder frei bewegen. Dort, wo sich Menschen anstecken, bleibt die Zone rot. In den roten Zonen gelten weitere strenge Beschränkungen, vor allem dürfen Menschen aus roten Zonen nicht in grüne reisen. Und wann immer neue Fälle auftauchten, müssten die Gesundheitsbehörden mit aller Härte reagieren, die Betroffenen konsequent isolieren, die Quarantäne wirklich durchsetzen, und sei es, indem man Menschen vorübergehend auch im Hotel unterbringt.


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Ich wohne in Australien und kann die Zero-Covid-Strategie sehr empfehlen. Wegen eines Ausbruchs in Sydney sind zur Zeit auch noch manche Bundesländer-Grenzen hier geschlossen. Für die Einwohner an den Grenzen der Länder gibt es Ausnahmeregeln. Gut organisiert, die Polizei kontrolliert die Grenzen und die große Mehrheit der Australier ist eh bei der Strategie mit im Boot. [...] Die Australier können sich gar nicht vorstellen, dass dies im ›fortschrittlichen‹ Deutschland nicht funktioniert.


Das klingt ungewohnt hart für hiesige Verhältnisse. Wer aber denkt, der Vorschlag der No-Covid-Gruppe zeichne sich vor allem durch Härte aus, liegt falsch. Die vorgeschlagene Strategie bezieht die Menschen und ihre Fähigkeit mit ein, für sich selbst zu sorgen und sich im Team für ein gemeinsames Ziel zu verbünden. So war es etwa in der Millionenmetropole Melbourne, wo Bürgerinnen und Bürger gemeinsam mit lokalen Unternehmen und Verwaltungen so ehrgeizig das Ziel "grün" verfolgten, dass sie es um Wochen früher erreichten als prognostiziert. "Das Prinzip der grünen Zonen arbeitet gewissermaßen mit Belohnungen", sagt Matthias Schneider. Und da wird klar, was sein Kollege Hallek damit meint, wenn er davon spricht, der Lockdown müsse sich auszahlen: Man braucht jetzt Erfolgserlebnisse, um durch die Pandemie zu kommen. Das sei ein erprobter Weg.

"Auf diese Weise kämen wir raus aus dem Ohnmachtsgefühl, in das wir durch diese periodischen Lockdowns seit dem Herbst immer stärker hineingeraten", sagt der Kasseler Soziologe Heinz Bude, auch ein Mitglied der No-Covid-Gruppe, ein paar Stunden vorher am Telefon. "Der Ansporn, sich an Maßnahmen zu halten, kommt aus dem Vergleich mit anderen Regionen." Das funktioniere ein bisschen wie ein olympischer Wettbewerb. Stolz inbegriffen. "Dieses Virus ist ein soziales Phänomen – und deshalb bekommen wir es auch nur so in den Griff, das zeigt das Beispiel Australien", sagt Bude.

Bisher läuft es freilich anders. "Es ist nicht sinnvoll, immer nur Zeiten zu nennen, an denen die Maßnahmen aufhören sollen oder wieder auf den Prüfstand kommen", sagt die Politikprofessorin Elvira Rosert von der Uni Hamburg. Das sei eine Falle, weil ein Datum dazu verleite, nur zu warten und nicht aktiv zu werden. Mit der No-Covid-Strategie indes hätte man erstmals ein echtes Ziel und auch eines, dass sich wirklich erreichen und sichern lasse.