So soll No Covid gelingen – Seite 1

Soll es wirklich so weitergehen mit dem Pandemiemanagement in Deutschland? Ohne Perspektive? In weiteren Wellen, mit immer wieder neuen landesweiten Lockdowns? Ohne klar formulierte Ziele?

Viele Deutsche sind nervlich am Ende. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern nachhaltige Pläne, endlich eine stringente Strategie für den Umgang mit dem Virus. So auch eine interdisziplinäre Gruppe um die Virologin Melanie Brinkmann, den Internisten Michael Hallek und den Physiker und Modellierer Michael Meyer-Hermann. Der Name der Strategie ging längst durch die Medien: No Covid. Er ist bewusst gewählt, um sich abzugrenzen von der weit verbreiteten Vorstellung, man könne doch auch mit Inzidenzzahlen um oder über 50 ganz gut klarkommen. Von der Idee, dass man mit diesem Virus tanzen könne, finden die Wissenschaftler, müsse man sich einfach verabschieden. 

Dieser Strategiewechsel wäre eine Abkehr von "Flatten the curve" und "Hammer and dance", aus dem ersten Jahr der Pandemie. "Sars-CoV-2 ist leider etwas zu ansteckend, es ist etwas zu tödlich und es lässt Infizierte zu lange unerkannt herumlaufen, als dass diese Wege hier funktionieren würden, das haben wir inzwischen gelernt", sagt der Mediziner Hallek.

Stattdessen, glauben Brinkmann und ihre Mitstreiter, müsse man das Virus zunächst so weit es irgend geht zurückdrängen, und könne dann überall dort Kindergärten, Theater, Shoppingcenter, Sporthallen und Bars öffnen, wo nur noch Infektionen auftreten, deren Ursprung klar ist und die sich sofort beherrschen lassen – ganz so, wie es Neuseeland und Australien längst vormachen. Sind die Zahlen einmal so tief, wie sie es auch bei uns vergangenen Sommer waren, lässt sich das Virus überholen und mit stringentem Handeln kontrollieren. Das könnte landesweite Lockdowns verhindern, die immer dann die letzte Option sind, wenn sich das Virus schon wieder rasend schnell ausbreitet und ein Kollaps der Kliniken droht. Das ewige Herumeiern um eine Reproduktionszahl eins zermürbe, sagte Michael Meyer-Hermann, Systembiologe am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, ein Mitstreiter der Initiative, kürzlich in den Tagesthemen. Der R-Wert gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Liegt er über eins, steigen die Fallzahlen, liegt er darunter, sinken sie.

Mit niedrigem R-Wert und geringen Infektionszahlen und kaum unerkannten Infizierten, die sich im Supermarkt, in Schulen und Firmen bewegten, säßen die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Wirtschaft nicht länger wie auf einem Pulverfass. Mit solchen Zielen, so glauben die No-Covid-Wissenschaftler, gebe es auf Dauer mehr Freiheiten, weniger Tote und eine besser laufende Wirtschaft.

Mutanten, Öffnungsdruck und Impfstoffknappheit

Die No-Covid-Strategie sei höchstwahrscheinlich die klügste Möglichkeit in Anbetracht dessen, was gerade auf uns zukommt. Und das ist einiges:

• Da sind zunächst die fitteren, neuen Virusmutanten, deren Anteil sich momentan von Woche zu Woche ungefähr verdoppelt. Unter der Decke der derzeitigen Fallzahlen könnten sie eine dritte Welle auslösen. 

• Da ist der Druck, den viele Politikerinnen und Politiker offenkundig spüren, dass auf den Erfolg des Weihnachtslockdowns nun allmählich mal Lockerungen folgen sollten. Denn sie haben mittlerweile die Zahlen von 50 oder 35 Fällen pro 100.000 Einwohner und Woche von Grenzwerten zu tolerablen Alltagsmarken für Lockerungen umdefiniert – obwohl diese Marken nach Auffassung vieler Fachleute zu hoch sind. 

• Und zuletzt ist da der Fakt, dass es mit den Impfungen nicht so schnell vorangeht, wie einige gehofft hatten. Die Monate bis zum Spätsommer, wenn hoffentlich bei einem Großteil der Deutschen ein Impftermin gebucht ist, sind deshalb besonders heikel. Denn impft man in eine Bevölkerung hinein, in der viel Virus zirkuliert, gerät das Virus unter Druck. Es wächst die Gefahr, dass weitere Mutanten entstehen, noch unangenehmere als die britische, brasilianische, südafrikanische Variante. Es geht also auch darum, die Impfstoffe zu schützen und dafür die Inzidenz kleinzuhalten.

Corona-Impfung - Das passiert mit den mRNA-Impfstoffen im Körper Sie schützen vor einer Covid-19-Erkrankung: die erstmals entwickelten mRNA-Impfstoffe. Wie sie funktionieren und was sie so effektiv und sicher macht. Aus dem Archiv

Wie genau man auf diese Herausforderungen reagieren könnte, haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der No-Covid-Gruppe in zwei Papieren formuliert. Sie begannen mit ihrer Arbeit in den Weihnachtstagen, als sie selbst und die Nation sprichwörtlich einen Augenblick zur Besinnung kamen. Die Lage: erschütternd hohe Todeszahlen und Inzidenzen der zweiten Welle hierzulande, miserabel wie die in den USA. Und niemand würde ernsthaft behaupten, dass der ehemalige US-Präsident Donald Trump die Pandemie gut gemanagt habe. Gleichwohl herrschte noch eine recht ungebrochene, paradoxe Selbstgewissheit bei vielen Politikern, dass Deutschland es schon gut hinbekommen werde.

Vierzehn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich vorher kaum kannten, fanden sich in dieser Zeit schnell zu einer Initiative. Im Januar traten sie an die Öffentlichkeit, mit einem ersten Konzept für eine Langzeitstrategie zur Pandemiebekämpfung, das sich am Maßnahmenmix in den Ländern auf der Welt orientiert, die bis heute am besten mit Sars-CoV-2 fertigwerden. Länder, die weniger Tote beklagen und zugleich mehr Freiheiten für die Bevölkerung haben, Länder wie Australien, Neuseeland oder Vietnam. Die Gruppe, eine Art pandemiepolitische Graswurzelbewegung, hat für ihre Vorschläge in wenigen Wochen viele Unterstützer und Sympathisantinnen gefunden wie den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder oder die Oberbürgermeisterin von Köln Henriette Reker – aber natürlich haben die Ideen auch Kritiker auf den Plan gerufen.

"Das Komische ist: Wenn man persönlich etwas ausführlicher mit Politikern über die No-Covid-Idee spricht, gibt es mehr Zustimmung als Widerspruch", sagt der Arzt Michael Hallek. Doch da gebe es mitunter die Sorge, sich zu hervorzutrauen – und dann womöglich nicht alle Ziele zu erreichen. Nicht ganz so hilfreich ist da offenkundig auch die Wahl des Namens No Covid für das Projekt: Der wurde in der öffentlichen Diskussion sofort verwechselt mit Zero Covid, dem Schlagwort einer anderen Gruppe, die vor allem politisch motivierte, antikapitalistische Ziele verfolgt. Wichtig sei auch klarzustellen, dass es bei No Covid nicht um die Ausrottung des Virus ginge, schrieb die Genfer Virologin Isabella Eckerle, die nicht zu der Gruppe zählt, kürzlich auf Twitter. Dafür ist es weltweit zu spät, da sind sich alle Expertinnen nahezu sicher.

Bottom-up statt Top-down

Jüngst hat die Gruppe ein zweites Papier vorgelegt, mit vier Toolboxen, die konkrete Vorschläge für die Umsetzung der Strategie enthalten. Denn es hapere auch an der stringenten Umsetzung dessen, was längst beschlossen oder Gesetz sei, sagen die Forscherinnen und Forscher: Die Schraubenzieher in den vier Kästen basieren auf Studiendaten, so weit diese bereits vorhanden sind, und Best-Practice-Beispielen zu einzelnen Maßnahmen aus verschiedenen Ländern, etwa aus der australischen Großstadt Melbourne oder aus Südkorea. Die sollen nicht eins zu eins übertragen werden, sondern den hiesigen Verhältnissen angepasst und erweitert werden.

Kernelemente dieser ersten Toolboxen sind: 

• Eine stringente Umsetzung der Nachverfolgung von Ansteckungsketten, der Quarantäne und schnelles Testen von Kontaktpersonen und Menschen mit Symptomen – denn die Schnelligkeit an dieser Stelle ist der größte Hebel in der Pandemie.

• Die Begrenzung von harten Lockdowns auf Regionen mit hohen Fallzahlen (rote Zonen), während in Städten, Landkreisen oder Landkreisverbünden, in denen die Fälle stabil niedrig sind und nachvollziehbar, nach und nach geöffnet werden kann und sehr viele Freiheiten zurückkehren (grüne Zonen). In den roten Zonen wäre es nach diesem Plan so wie derzeit in ganz Deutschland; in den grünen so wie in Australien.

• Bundeseinheitlich klare Regeln für alle, aber regional angepasste Umsetzung, sodass Bürgermeister, lokale Unternehmen und Bürgerinnen sich für das gemeinsame Ziel zusammentun, vor Ort Ideen entwickeln, Prioritäten setzen und gleichgesinnte Regionen suchen können. Bottom-up statt Top-down ist Schlüsselelement der Strategie. 

• Abstriche seien in der Mobilität nötig, denn das ist der vorübergehende Preis: Zwischen roten und grünen Zonen soll nur dann gependelt und gereist werden, wenn es nötig ist, etwa für die Arbeit oder für die Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger, in Ausnahmen, die weder unrealistisch noch unmenschlich sein sollen. Flankiert wird das mit Schnelltests – für die Bund, Länder und Arbeitgeber aufkommen könnten. Stichprobenartig gibt es Verkehrskontrollen, wenn die Mobilitätsdaten zeigen, dass der Verkehr irgendwo auf den Straßen plötzlich zu rege wird. 

• Eigenverantwortung für die Bürger, aber gleichzeitig ein Anreizsystem. Wenn die eigene Region es besser hinbekommt, sind Schulen, Theater, Sportvereine und Bars vor der Haustür geöffnet. 

• Die Einsicht, dass die Ziele Gesundheit und funktionierende Wirtschaft zusammengehen und keinen Widerspruch bilden, wie entgegen der Datenlage oft behauptet wird. Um eine Inzidenz von zehn und weniger zu erreichen, bei der sich beide Ziele erreichen ließen, sei es nötig, effizienter zu testen und nachzuverfolgen, zu impfen, alle Unternehmen hygienischer aufzustellen – nicht nur manche –, viel mehr Daten zu erheben, wo und wie sich Leute anstecken und das Arbeitsrecht so zu verändern, dass infizierte und gefährdete Menschen, die sich korrekt isolieren, nicht ihren Job verlieren.

Um jetzt durchzuhalten, müssten vor allem die Wirtschaftshilfen für Tourismus, Handel und Gastronomie und Kultur endlich schnell ankommen. Und die Kultusminister ihre Hausaufgaben machen, anstatt die Verantwortung etwa für Schülerinnen und Schüler stur weiter an einzelne Lehrer, Eltern – und Arbeitgeberinnen – zu delegieren.

Schneller werden und die Quarantäne kontrollieren

Die No-Covid-Gruppe hat ihr Papier vor der Veröffentlichung unter weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zur Diskussion gestellt und betrachtet es als atmenden Plan. Das Schärfen und Ergänzen der Werkzeuge ist ausdrücklich einkalkuliert und erwünscht. Denn es wird immer offenkundiger: Ein kluger Strategiewechsel könnte der Pandemiemüdigkeit entgegenwirken, 81 Prozent der Deutschen wünschten sich in der jüngsten Umfrage des Covid-19 Snapshot Monitoring (Cosmo) der Universität Erfurt eine längerfristige Perspektive im Umgang mit der Krise.

Beispiele, wie es besser geht, finden sich nicht nur auf Inseln im Pazifik, es reicht der Blick zur deutschen Ostseeküste: Claus Ruhe Madsen war erst drei Monate Oberbürgermeister von Rostock, als die Pandemie begann, und was er vorfand im Gesundheitsamt waren Faxgeräte statt guter digitaler Infrastruktur. "Klar, die standen da aus der Zeit vor der Pandemie", sagt Madsen. "Ich habe dann gefragt 'Was brauchen Sie? Sie wollen Laptops, bitte schön; was brauchen Sie noch?' Ich hab versucht, maximal zu unterstützen." Ergebnis: Rostock war lange eine der Kommunen mit sehr niedrigen Inzidenzzahlen. "Rein rechnerisch haben wir weit mehr als 100 Menschenleben gerettet, da ist man ein glücklicher Bürgermeister", sagt Madsen, der aus Dänemark stammt und vor seiner Tätigkeit in der Politik ein Unternehmen geleitet hat. 

Und er denkt weiter: "Ich würde gerne auf der Basis niedriger Fallzahlen ein Pilotprojekt starten, mit einem Stufenmodell, das wissenschaftlich begleitet wird", sagt Madsen. "Zum Beispiel alle Schulen aufmachen, mit Maskentragen, Lüften, Handhygiene und dann allen Lehrern und Schülern freiwillig PCR-Tests anbieten, und schauen: Passiert da was? Man braucht doch Daten." Und falls alles gut ginge, danach vielleicht den Handel öffnen: "Aber eben nur für die Rostocker", sagt Madsen – nicht, dass dann die Lübecker in Rostock shoppen würden, da sollte dann schon der Personalausweis vorgezeigt werden. Und das sollte eben auch kontrolliert werden, durch das Ordnungsamt, das Gesundheitsamt und die Landespolizei. Laufen lassen funktioniere nicht, Leute suchten immer Schlupflöcher, das sei menschlich, sagt Madsen.

Das sieht der Klinikchef und Internist Michael Hallek aus Köln ähnlich: "Man kann das nicht einfach alles laufen lassen, das darf man in dieser Pandemie eben nicht: noch nicht einmal nachzuschauen, ob die Vorgaben umgesetzt werden, geschweige denn sie zu kontrollieren." Die größten und gefährlichsten Effizienzverluste sieht der Mediziner denn auch bei der Umsetzung von Infektionsnachverfolgung, Isolierung und Quarantäne im Anschluss an einen Test.

Die No-Covid-Initiative weist in ihrem Papier prominent darauf hin, dass vielerorts die Labors und Behörden nicht schnell genug sind. Zwischen den ersten Symptomen und der Meldung beim Gesundheitsamt vergehen im Schnitt 4,6 Tage, der Anruf bei Infizierten und den Kontaktpersonen erfolgt meist sogar noch später: Es stockt beim Testen, bei der Bearbeitung der Proben im Labor, bei der Übermittlung des Ergebnisses an das Gesundheitsamt und im Gesundheitsamt selbst. Und das ist für die Eindämmung der Pandemie ein Riesenproblem.

Denn Studien zeigen, dass Sars-CoV-2-Infizierte vor Symptombeginn und in der ersten Woche danach viel Virus ausscheiden und deshalb wohl auch besonders infektiös sind (The Lancet: Cevik et al., 2020). Wenn Labors und Behörden es schaffen, schneller zu werden, hat das wahrscheinlich einen enormen Einfluss auf die Eindämmung der Pandemie. Schafft man es dann noch, möglichst alle Kontaktpersonen oder sogar Infektionscluster ausfindig zu machen, das zeigen Modellrechnungen, kommt man einer wirksamen Eindämmung des Virus sehr nah (The Lancet Infectious Diseases: Kurcharski et al., 2020).

Deshalb wünschen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der No-Covid-Gruppe, dass die Zeit von 4,6 Tagen auf 36 Stunden gedrückt wird. Wie realistisch das ist, ist unklar. Klar aber ist: Jede Stunde, die Behörden und Labors schneller werden, dürfte einen positiven Einfluss auf den Pandemieverlauf haben. Konkret, heißt es in dem Papier, sollte es den Menschen erleichtert werden, sich testen zu lassen, die Proben sollten schneller in die Labors kommen und die Laborergebnisse schneller übermittelt werden. Auf Seiten der Gesundheitsämter sollten digitale Anwendungen wie das Sormas-Meldesystem für die Kontaktnachverfolgung und Fallverarbeitung sowie die Demis-Schnittstellen für die direkte Übermittlung zum Robert Koch-Institut noch konsequenter genutzt werden. Außerdem brauche es in Gebieten mit hohen Fallzahlen mehr Personal. Und die No-Covid-Gruppe betont, dass man von Best-Practice-Beispielen bestimmter Gesundheitsämter lernen müsse.

"Die Regelungen reichen aus, wir haben nur ein Umsetzungsproblem"

Markus Schwarz, Gesundheitsamtleiter in Rostock, ist zwar kein Befürworter der No-Covid-Initiative, sagt im Gespräch mit ZEIT ONLINE aber, wie wichtig eine gute Organisation ist. Das sei zwar nicht der einzige Grund dafür, dass in Rostock die Fallzahlen über lange Zeiträume gering waren (auch die geografische Lage und andere politische Entscheidungen hätten eine Rolle gespielt), aber in Rostock wurde seit Beginn der Pandemie viel getestet und an den Abläufen gearbeitet.

Bürgermeister Madsen etwa hat umgehend 2.000 von 2.400 seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ins Homeoffice geschickt und das Gesundheitsamt früh mit der Software Sormas ausgestattet. Dass es Ämter gibt, die Sormas bis heute nicht benutzen, macht Madsen richtig sauer. Er hat das Personal in seinem Gesundheitsamt aufgestockt, im Sommer 2020 viele Neue einarbeiten lassen, damit sie ihren Job draufhaben, "bevor es brennt". Er hat Beschäftigte aus der verwaisten Tourismuszentrale, dem Grünamt und der Gewerbeaufsicht zur Unterstützung ins Gesundheitsamt geschickt. Er hat zwischendurch auch lieber mal selbst nachgefragt, ob noch genug Schutzausrüstung in allen Größen eingelagert ist. "Am nächsten Tag hatte ich eine Rechnung von 280.000 Euro auf dem Tisch." Mitarbeitende im Rettungsdienst, im Migrationsamt, in der Klinik vor Ort, in Pflegediensten, bei Feuerwehr und Polizei hat er sofort regelmäßig testen lassen. "Das kostet alles Geld und deshalb finde ich, dass erfolgreiche Kommunen künftig auch belohnt werden sollten", sagt Madsen.

Ein weiterer, entscheidender Punkt ist die Isolation und Quarantäne. Eigentlich sollen Menschen, die selbst infiziert oder enge Kontaktperson von einem Covid-19-Fall sind, aber auch Menschen, die Covid-typische Symptome haben, den eigenen Haushalt erst einmal nicht verlassen. Eine Studie vom King's College London aber zeigt, dass sich in England der Großteil der Menschen nicht daran hält. Von den Befragten, die Symptome verspürten, gaben nur rund 20 Prozent an, sich selbst sieben Tage lang zu isolieren. Von denjenigen, die vom Gesundheitsdienst informiert worden waren, dass sie die Kontaktperson eines Infizierten sind, gaben sogar nur zehn Prozent an, sich vierzehn Tage in Quarantäne zu begeben.

Wie sieht das hierzulande aus? Das weiß niemand genau. Zahlen dazu, wie viele Menschen sich an die Quarantäne oder Isolation halten, gibt es nicht. Wer sich umhört, stellt schnell fest: Es unterscheidet sich mit Sicherheit von Ort zu Ort – und dürfte auch damit zu tun haben, ob die Isolation und Quarantäne kontrolliert wird, ob also das Ordnungsamt oder die Polizei den Menschen in Isolation mal einen unangekündigten Besuch abstatten. Andere Länder wie Taiwan oder Südkorea setzten auf strikte Kontrollen wie einen elektronischen Sensor, der anzeigt, wo sich ein Mensch in Quarantäne befindet. Und in Südostasien oder bei Einreise nach Neuseeland ist es auch üblich, Menschen in Quarantänehotels unterzubringen.

Vielleicht ist es den Versuch wert: "Vielleicht ist es besser, Patienten konsequent in Quarantäne zu schicken und sie vorübergehend individuell einzuschränken, als das ganze Land in Dauerquarantäne zu versetzen und die bürgerlichen Freiheiten für alle einzuschränken", sagt der Mediziner Michael Hallek. Die Gesundheitsämter jedenfalls hätten schon jetzt jedes Recht dazu. "Die Regelungen reichen aus, wir haben nur ein Umsetzungsproblem."  

Will die No-Covid-Initiative also auch für Deutschland Quarantänehotels? Das wird aus dem Papier nicht ganz klar. Dort heißt es nur, "alternative Formen der Quarantäne (z. B. Hotels)" sollten angestrebt werden, an anderer Stelle ist von "(freiwilligen) Quarantänehotels" die Rede. Die Idee stieß in Deutschland auf bisweilen heftige Kritik und auf viele Fragen: Wenn eine Frau, die zu Hause die eigene Mutter pflegt, plötzlich Kontaktperson eines Covid-19-Positiven ist, wer kümmert sich um die Bettlägerige, wenn die Frau ins Quarantänehotel muss? Und wie viel Übergriffigkeit vonseiten des Staates, gerade wenn es sich nur um eine Kontaktperson handelt, ist angemessen?

"Schnelltests können bei der Pandemieeindämmung eine große Rolle spielen."
Claudia Denkinger, Infektiologin

Ganz von der Hand zu weisen sind diese Argumente nicht. Aber man sollte sie zumindest in den Kontext anderer Forderungen und Ideen rücken. Das No-Covid-Paper verweist explizit darauf, dass Quarantäne nicht nur überwacht, sondern die Menschen in Quarantäne auch besser unterstützt werden müssen. Und das ist ein ganz entscheidender Punkt. Denn – auch das zeigen die Daten aus England – die meisten Menschen wollen sich eigentlich an die Quarantäne- und Selbstisolationsvorgaben halten. Es geht also darum, es den Menschen überhaupt möglich zu machen. Im Detail könnte das heißen, Menschen noch besser über Symptome zu informieren; Menschen, die Angst davor haben, ihren Job zu verlieren, arbeitsrechtlich abzusichern; Menschen organisatorisch und finanziell zu unterstützen, wo das nötig ist, und ihnen in bestimmten Fällen auch schnell und kostenlos Tests anzubieten, die die Quarantäne abkürzen können.

Die Möglichkeit, sich wieder freizutesten, hätte noch andere Effekte. Christian Erdmann vom Aktionsbündnis Rapidtests, das sich für eine breite Nutzung von Antigenschnelltests einsetzt, sagt: "Ein gewisses Restrisiko beim Freitesten im Einzelfall bleibt natürlich, aber es würde unserem Ermessen nach die Testbereitschaft und Akzeptanz der Quarantäne erhöhen." Er verweist auch auf eine Modellierung aus der Arbeitsgruppe rund um Adam Kucharski von der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Diese zeigt, dass ein Freitesten von Kontaktpersonen durch einen negativen Schnelltest bereits sieben Tage nach dem Kontakt ähnlich effektiv ist wie die gegenwärtigen Quarantäneregelungen (The Lancet Public Health: Quilty et al., 2021).

Wichtiger ist dem Bündnis um Erdmann aber noch, dass die Schnelltests breit verfügbar werden, damit sich auch Menschen, die minimale Symptome wie Rückenschmerzen oder Halskratzen haben, testen lassen können. Dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn nun das Testangebot mit Schnelltests massiv ausweiten will, geht in genau diese Richtung. "Schnelltests können bei der Pandemieeindämmung eine große Rolle spielen", sagt auch Claudia Denkinger von der Uni Heidelberg. Sie untersucht, wie akkurat die Antigentests sind, vor allem, wenn Laien sie selbst anwenden. Denkinger findet die Forderung von Rapidtests nach einer erweiterten Teststrategie unter Einbeziehung der Schnelltests, die in Kürze auch für zu Hause auf den Markt kommen sollen, sehr wichtig. Sie sagt, die Schnelltests müssten zwar unbedingt von unabhängigen Stellen geprüft werden und nicht nur von den Firmen. Aber nach dem momentanen Stand seien die meisten sehr gut darin, Menschen ausfindig zu machen, die infektiös sind. Und neuere Studien zeigen auch, dass die Zahl der Falsch-Positiven sehr gering ist (zum Beispiel MedRxiv: Hoehl et al., 2020).

"Was wir, neben Anwendungs- und Machbarkeitsstudien, dringend brauchen", sagt Denkinger, "sind Aufklärung und klare Konzepte, die dann lokal angepasst werden. Wichtig ist: Die Barrieren zum Testen müssen minimal sein." Wo man denn beginnen sollte? "Zum Beispiel in Schulen. Wenn man dort alle Kinder und Lehrer dreimal die Woche testet, könnte das einen großen Effekt haben." Genaueres zu ihren Plänen einer Teststrategie will die No-Covid-Gruppe in Kürze vorstellen.

Ganz ohne vorübergehende Einschränkungen ist Viruskontrolle nicht zu haben, vor allem bei der Mobilität müssten sich die Bürgerinnen, geht es nach No-Covid, noch längere Zeit sehr beherrschen. Die Gruppe schlägt die Einrichtung grüner Zonen vor, wie es in Australien erfolgreich praktiziert wurde. Die eingedeutschte Bezeichnung von Green Zones rief bereits bei der ersten Präsentation der Ideen heftige Reaktionen hervor. Und es ist in der Tat geschichtsvergessen. Viele fühlten sich an die Zeiten der deutschen Teilung erinnert, die Zeit der "Zonengrenze". Und auch die Rhetorik der "Belohnung" empfinden viele Kritikerinnen als vergiftet und bevormundend. Sie fragen nicht ganz zu Unrecht, warum sich Bürger ihre Grundrechte denn "verdienen" sollten.

Selbst ohne null könnte die Initiative vieles besser machen

Gemeint ist mit den Zonen Folgendes: Landkreise werden als grün bezeichnet, wenn die Inzidenzzahl so niedrig ist, dass alle Neuinfizierten bekannt und auffindbar sind. Zwischen grünen Zonen könne man hin- und herfahren, wie man will. Wer jedoch zwischen grünen und roten Zonen pendelt, braucht dafür einen essenziellen Grund, den Job etwa. Aber eben nicht shoppen gehen oder ein Besuch im Lieblingsrestaurant in der Nachbarstadt. "Es geht darum, dass eben nicht die eine Großfamilie aus der grünen die andere Großfamilie in der roten Zone besucht. Aber natürlich kann eine Familie aus der grünen Zone dann im Wald der roten Zone spazieren gehen. Man muss aufhören, die Dinge immer zu verkomplizieren", sagt der Arzt Michael Hallek. Und von Schlagbäumen und militärisch abgeriegelten Regionen will von der No-Covid-Gruppe ohnehin niemand etwas hören. Stichprobenartige Kontrollen, angepasst an die Mobilitätsdaten, würden reichen. So wie in Rostock. Und etwa gute Teststrategien für alle, die trotzdem pendeln müssten. 

Erklärtes Ziel der Strategie ist, möglichst viele Regionen zur grünen Zone erklären zu können und diesen Status dann zu verteidigen. Nur wie soll man in einer Region die Ansteckungsrate dauerhaft gering halten, wenn diese nicht von der Außenwelt abgeschottet und jegliche Mobilität unterbunden werden soll? Darauf geben die Autorinnen und Autoren des No-Covid-Konzepts eine Reihe von Antworten.

Eine Idee lautet, sich bei der Festlegung der geografischen Regionen nicht nur auf Verwaltungseinheiten zu stützen, also die Zonen entlang der Landkreise oder Kommunen zu ziehen. Vielmehr plädieren die Forschenden dafür, anhand von Mobilitätsdaten zu identifizieren, wie sich die Menschen in einem Gebiet bewegen. "Metropolregionen und Ballungsräume mit größerem Einzugsgebiet und Pendelverkehr", heißt es in dem Konzept, könnten zu in einer Zone zusammengefasst werden, weil vor allem Berufspendler und -pendlerinnen von ländlichen Wohngebieten in städtische Regionen täglich zur Arbeit hin- und zurückfahren.

Eine solche Aufteilung aber hält Barbara Lenz, Leiterin des Instituts für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, für "wenig praktikabel". Das Konzept sei theoretisch zwar gut gedacht, aber Pendlerströme ließen sich kaum auf bestimmte Räume beschränken. Lenz gibt zu bedenken: "Es gibt eine weite Streuung über Landkreise hinweg mit vielen Überlappungen." Wenn man zugrunde lege, dass rund 50 Prozent der Erwerbstätigen über Gemeindegrenzen hinweg täglich zur Arbeit pendelten und davon jetzt noch einmal rund 40 Prozent im Homeoffice arbeiteten, blieben weiterhin 12 Millionen Menschen, deren Mobilität man im Blick behalten müsse. "Wie das geschehen soll, geht aus dem Konzept nicht klar hervor", sagt Lenz.

Die No-Covid-Gruppe will das nicht gelten lassen. Es gebe durchaus nachvollziehbare Mobilitätsmuster. Wenn man zum Beispiel Google-Bewegungsdaten zur Hand nehme, die es ohnehin schon gibt, erklärte der Mobilitätsforscher Dirk Brockmann kürzlich vor Journalisten, könne man täglich messen, wie Menschen sich bewegen.

"Wäre die Gesellschaft ein Computermodell, würde ein solches Konzept wahrscheinlich funktionieren."
Mathias Wilde, Mobilitätsforscher

Absehbar ist: Um No Covid umzusetzen, müsste der derzeitige, restriktive Datenschutz neu betrachtet werden, der gegenwärtig über andere Grundrechte gestellt wird. Da müssten wir ran, sagt der Oberbürgermeister Klaus Madsen aus Rostock, um Öffnungen endlich pandemiesicherer zu gestalten. Denn eines wolle er nicht mehr: Nachts im Bett die Gesichter von gestandenen, erfolgreichen Unternehmern, die kurz vor der Insolvenz stünden, mit Tränen in den Augen vor sich sehen.

Nur ist die Idee der regionalen Verantwortung und Kontrolle flächendeckend umsetzbar? Der Mobilitätsforscher und Geograf Mathias Wilde von der Hochschule Coburg begrüßt zwar insgesamt die Initiative der No-Covid-Wissenschaftlerinnen, weil sie sich um eine längerfristige Strategie bemühten. Doch das Zonenmodell hält Wilde "für "gesellschaftspolitisch riskant", selbst "wenn es epidemiologisch sinnvoll" sein möge. "Wäre die Gesellschaft ein Computermodell", sagt Wilde, "würde ein solches Konzept wahrscheinlich funktionieren." Er sieht aber unter anderem eine Gefahr darin, dass die unterschiedlichen Zonen miteinander in einen Wettbewerb gebracht werden sollen. Dies könne letztlich dazu führen, dass es heißt: "Wir sind die Guten und ihr die Schlechten."

Das Argument ist plausibel. Und wahrscheinlich würde erst mit der Zeit klar, wie eine Einteilung in Zonen sich wirklich auf die Motivation auswirkt. Bis dahin kann man sich ja aber die Erfahrung aus anderen Ländern und anderen Situationen anschauen, findet Menno Baumann von No Covid, der neben seiner akademischen Lehrtätigkeit in der Jugendarbeit tätig ist: "Dass in den roten Zonen Agonie ausbricht, ist motivationspsychologisch sehr unwahrscheinlich." Es sei vielmehr so, dass positive Ziele psychologisch motivierten.

Aber auch praktisch, hält Wilde entgegen, sei es problematisch, die Verkehrsströme in den Regionen zu priorisieren und nur wirtschaftlich erforderliche Fahrten zwischen den roten und grünen Zonen zu erlauben. "Mich stört in dem Konzept, dass als essenziell der Pendler- und Warenverkehr gilt. Damit fokussiert es zu einseitig auf eine funktionsfähige Wirtschaft. Menschen haben aber auch andere wichtige Bedürfnisse, wie Bildung, Kultur oder das soziale Miteinander. In diesen Bereichen schafft es das Konzept noch nicht, den Menschen eine Perspektive aufzuzeigen", sagt Wilde.

Es gibt, was die Vorschläge der No-Covid-Gruppe angeht, noch viel Diskussionsbedarf. Um weiterzukommen, bräuchte es dringend lokale Vorreiter, die versuchen, das Konzept umzusetzen und von deren Beispielen man dann lernen kann. Wer sich mit den No-Covid-Vorschlägen auseinandersetzt und mit Expertinnen spricht, stößt aber zumindest auf eines: Die Fallzahlen Richtung null zu drücken, ist zwar zentral, aber entscheidender könnte fast sein, was die Gruppe auf dem Weg dahin anstößt. Was das System des Testens, Nachverfolgens und Isolierens angeht oder die Frage, wie man die Mobilität geschickt einschränkt, wenn es lokal viele Fälle gibt: Es gibt noch viel Verbesserungsbedarf. Die No-Covid-Initiative, selbst wenn sie scheitern sollte, könnte die Pandemiebekämpfung besser machen. Einer der Befragten, selbst nicht Teil der No-Covid-Gruppe, drückt es so aus: "Was ich an der Initiative so mag, ist, dass sie dazu führt, dass Menschen aus den verschiedensten Bereichen der Pandemiebekämpfung nun ihre Werkzeuge schärfen."