Gastkommentar

Die eskalierenden geopolitischen Rivalitäten stellen die Globalisierung infrage – will Europa am Fortschritt teilhaben, muss es auch für politisch heikle Systeme offen bleiben

Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg haben Europa vor Augen geführt, dass es nötig ist, sich technologisch und energietechnisch autonomer aufzustellen. Dabei darf indes nicht vergessen werden, dass wir den Wohlstand in vielen Teilen der Globalisierung verdanken.

Maximilian Mayer und Tim Wenniges
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Für eine friedliche und gedeihliche Zukunft der Welt bleibt der internationale Handel essenziell. – Containerhafen in Garden City, Georgia.

Für eine friedliche und gedeihliche Zukunft der Welt bleibt der internationale Handel essenziell. – Containerhafen in Garden City, Georgia.

Stephen B. Morton / AP

Der Primat des Geoökonomischen hat sich als Folge des Ukraine-Kriegs durchgesetzt. Was in der Globalisierungsepoche noch selbstverständlich war, muss im Zeitalter der «Konnektivitätskriege» (Mark Leonard) fast täglich neu verhandelt werden. Den Preis dafür bezahlt vor allem Europa. Die Laufzeit von Kernkraftwerken, der Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten, die Gasversorgung und der Chipmangel sind nur einige Beispiele für die Häufung von Unsicherheiten.

Umso wichtiger ist es, im Blick zu behalten, wie sich der Wirkungszusammenhang von Geopolitik, Wirtschaftsordnung und Wohlstand gerade grundlegend verändert. Europa hat die Implikationen dieser Zeitwende noch nicht verinnerlicht. Die Politik hat sich in einen Widerspruch verwickelt. Obwohl Europas Volkswirtschaften vom weltweiten Handel und von offenen Wirtschaftsbeziehungen abhängen, haben die Europäer selbst damit begonnen, ebendiese Grundbedingungen infrage zu stellen.

Die Unklarheiten von Moral

Wer sich mehr technologische Autonomie wünscht, sollte daher eine grundlegende Debatte über unser Wirtschaftsmodell nicht scheuen. Wie kann Europa seinen auf Innovation und Handel basierten Wohlstand sichern, wenn sich die Weltwirtschaft immer weiter fragmentiert und die Grundprinzipien der Globalisierung in ihr Gegenteil verkehrt werden? Wie global verflochten muss Europa trotz der brodelnden geopolitischen Gemengelage bleiben?

Die neue Phase der Globalisierung kann nur gelingen, wenn alle zur Veränderung bereit sind, um den geopolitischen Gravitationskräften entgegenzuwirken

Die vermeintliche Klarheit moralischer Argumentationen ist ebenso irreführend wie die Notwendigkeit, strategisch abzuwägen, unbequem. Das beginnt mit der Frage, wie eine Demokratie mit politischer Diversität umgehen soll. Wir leben in einer multipolaren und zunehmend kulturell diversen Weltordnung, in der die G-7 noch 10 Prozent der Weltbevölkerung stellen und 31 Prozent des Handels bestreiten. Unter diesen Bedingungen den Aussenhandel auf Länder beschränken zu wollen, die in unser ethisches Wertegefüge passen, erscheint unrealistisch.

Angesichts der geopolitischen Rivalitäten zwischen den USA und China kommt das Wort «Entkopplung» vielen scheinbar mühelos über die Lippen. Im eurozentrischen Diskurs um mehr strategische Autonomie scheinen die Wohlstandseffekte des globalen Handelssystems Schnee von gestern zu sein. Begriffe wie Systemkonkurrenz und Autonomie wirken ausserdem wie Brandbeschleuniger für europäischen Provinzialismus und aufkeimende nationale Egoismen.

Während die Problematisierung asymmetrischer Abhängigkeiten richtig ist, läuft die Debatte Gefahr, sich in Autonomieillusion zu erschöpfen. Statt auf Verschanzung zu setzen, wäre es an der Zeit, eine neue Phase der Globalisierung zu gestalten. Hierzu drei Punkte:

Internationale Arbeitsteilung ausweiten, nicht einschränken. In den vergangenen dreissig Jahren haben wir bei der Wahl zwischen Effizienz und Resilienz vermutlich zu stark auf die Effizienz gesetzt. Ein Schwenk hin zu Resilienz alleine widerspräche aber unserem marktwirtschaftlichen Modell und den Prinzipien der Globalisierung. Autarkiebestrebungen verkennen, in welchem Masse unsere Industrieproduktion von Bauteilen und Rohstoffen aus dem Ausland abhängt. Dazu zählen auch vielfältige digitale Abhängigkeiten. Das notwendige Austarieren ist daher keine leichte Aufgabe. Neue strategische Handels- und Technologiepartnerschaften sind unerlässlich.

Klimaschutz mit nur politisch genehmen Staaten bleibt ein Luftschloss. Wir müssen unser Wirtschaftsmodell mit den Klimazielen versöhnen. Es gilt daher abzuwägen, ob die Systemkonkurrenz mit China als nachgeordnet begriffen werden sollte. Eine weitere politische Aufladung der globalen Nachhaltigkeitskooperation mit zusätzlichen Bedingungen vermehrt Zielkonflikte. Dazu kommt der enorme Beitrag, den autoritäre Länder im technologischen Bereich für die Entkoppelung von Ressourcenverbrauch und Wachstum noch leisten werden. Sollte China ein Durchbruch bei der Kernfusion gelingen, würde Europa aus moralischen Gründen diese Energietechnik ungenutzt lassen?

Die internationale Kompetenz erhalten

Für kulturelle Globalisierung als Chance werben. Seit zwei Jahren erleben wir eine massive Reduzierung internationaler Begegnungen. Der persönliche Austausch zwischen Schulen und Universitäten, Kultureinrichtungen, Unternehmen und Politik ist auf ein Mindestmass geschrumpft. Internationale Kompetenz verkümmert. Dies wird nicht folgenlos bleiben. Diskussionen darüber, wirtschaftliche Verflechtungen zu diversifizieren – so richtig und notwendig sie in vielen Fällen sind – dürfen insbesondere der jungen Generation nicht signalisieren, dass besser jeder auf seiner Scholle bleiben solle. Alle gesellschaftlichen Akteure sind gefragt, jungen Menschen Mut zu machen, die Welt erneut zu entdecken.

Die Zukunft der europäischen Wirtschaft hängt davon ab, ob es uns gelingt, die bis anhin erreichte Globalisierungsstufe zu stabilisieren und ihre Strukturen zu erneuern. Die neue Phase der Globalisierung kann nur gelingen, wenn alle zur Veränderung bereit sind, um den geopolitischen Gravitationskräften entgegenzuwirken. Das heisst auch, den Begriff der Koexistenz zu rehabilitieren und offen zu bleiben gegenüber Erfahrungen jenseits der nordatlantischen Region, denn sonst würde unser eigener Ansatz weltweit an Relevanz und Glaubwürdigkeit verlieren.

Maximilian Mayer ist Professor für internationale Beziehungen und globale Technologiepolitik an der Universität Bonn. Tim Wenniges ist Geschäftsführer europäische und internationale Sozialpolitik bei Südwestmetall.