Politik

Russlands Armutsarmee "Jugend aus Moskau lässt man nicht sterben"

Der Großteil der russischen Soldaten kommt aus armen Regionen des Landes.

Der Großteil der russischen Soldaten kommt aus armen Regionen des Landes.

(Foto: IMAGO/SNA)

Schätzungsweise mehr als 100.000 Soldaten kämpfen für Russland in der Ukraine. Die meisten von ihnen sind jung und arm. Viele gehören ethnischen Minderheiten an. Unterrepräsentiert sind Soldaten aus Moskau und St. Petersburg. "Die lässt man nicht sterben auf den Schlachtfeldern", sagt ein Militärexperte. Wen schickt Putin in den Krieg?

Von mindestens 15.000 getöteten russischen Soldaten im Ukraine-Krieg gehen westliche Geheimdienste und Militärbeobachter aus. Das unabhängige russische Nachrichtenportal "Mediazona" hat bisher 5185 Gefallene zweifelsfrei identifiziert. Die Liste gibt Hinweise darauf, wie und wo Russland seine Soldaten rekrutiert.

Den Fokus legt Russland dabei auf abgelegenere oder ärmere Regionen des Landes: Dagestan und Burjatien statt Moskau und St. Petersburg. "Die Jugend der wohlhabenden und mit dem Staat verbandelten Eltern aus Moskau und St. Petersburg, die lässt man nicht sterben auf den Schlachtfeldern. Man holt sich die, die aus russischer Sicht im Grunde Hilfsvölker sind", sagt Joachim Weber, Sicherheits- und Russland-Experte von der Uni Bonn, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".

Wo genau die getöteten russischen Soldaten herkommen, hat das 2014 von Pussy-Riot-Aktivistinnen gegründete Medienportal "Mediazona" aufgeschlüsselt. Im Ukraine-Krieg versuchen die Journalisten aus öffentlichen Quellen zusammenzutragen, wie viele gefallene Soldaten zweifelsfrei identifiziert werden können. Ein Gefallener geht erst dann in die Statistik ein, wenn sein Tod durch öffentliche Quellen bestätigt wird.

Die aktuellsten Gefallenen-Zahlen reichen bis Ende Juli. Bis dahin sind demnach 5185 russische Soldaten in der Ukraine getötet worden. Vom Großteil der Gefallenen konnten die Journalisten das Alter herausfinden. Mehr als die Hälfte ist demnach jünger als 30 Jahre alt. "Diese Zahlen geben nicht die tatsächliche Zahl der Todesopfer wieder, da wir nur öffentlich zugängliche Berichte überprüfen können - einschließlich Social-Media-Posts von Angehörigen, Berichte in lokalen Medien und Erklärungen der lokalen Behörden", schränkt "Mediazona" allerdings ein.

Meiste Gefallenen aus Dagestan

257 der identifizierten russischen Kriegstoten stammen aus der Republik Dagestan im Kaukasus. Die muslimisch geprägte Republik zwischen Georgien und dem Kaspischen Meer ist verarmt. Russen machen hier gerade mal drei Prozent der drei Millionen Einwohner aus.

Die zweitmeisten gefallenen Soldaten - 223 - stammen aus Burjatien, einem Gebiet in Sibirien, nördlich der Mongolei. Ein Drittel der etwa eine Million Einwohner in der autonomen Republik gehören der ethnischen Minderheit der Burjaten an.

Überdurchschnittlich viele Gefallene kommen auch aus der Region Krasnodar im Kaukasusvorland. Auch Wolgograd und Orenburg im südlichen Russland haben viele Opfer zu beklagen. Genauso Baschkortostan am Ural. Die Minderheiten der Baschkiren und Tataren machen hier zusammen fast 60 Prozent der Bevölkerung aus. Nur etwas mehr als ein Drittel der Einwohner sind Russen.

"Die demografische Lage, die ausgeprägte Einstellung zum Militärdienst, die große Anzahl von Militäreinheiten in diesen Regionen, die niedrigen Löhne und die Arbeitslosenquote tragen dazu bei, dass die Armee für junge Männer attraktiv ist", analysiert "Mediazona".

Ukraine-KriegRusslands Kriegstote

Als Sold würden für Freiwillige mittlerweile Summen von bis zu 3500 Euro im Monat genannt, erzählt Russland-Experte Weber. "Das ist das Fünffache von dem, was man sonst in Russland verdient. Auch das Thema Ehre spielt eine große Rolle in diesen Dörfern. Man hört vom Zaren und vom großen Josef Stalin, vom heldenreichen und ruhmreichen Vaterländischen Krieg und ähnlichen Dingen", sagt der Wissenschaftler. Manche Familien würden geködert, üben dann Druck auf ihre Kinder aus. "Dann wird gesagt: Komm, du gehst freiwillig. So funktioniert dieses System. Und im Ergebnis kriegen die Baschkiren die Särge zu Hunderten zurück."

Militärdienst finanziell verlockend

Die armen Regionen leiden am stärksten unter dem Krieg, den Russland in der Ukraine führt. Der Durchschnittsbürger Dagestans verdient monatlich umgerechnet etwas weniger als 400 Euro. In Burjatien, Baschkortostan, Wolgograd und Orenburg sieht es ähnlich aus, in Krasnodar sind es etwas über 500 Euro.

Dass der Großteil der russischen Soldaten aus ärmeren Landesteilen kommt, ist nicht überraschend. Die meisten russischen Kämpfer in der Ukraine sind trotz aller Freiwilligenbataillone immer noch Berufssoldaten. Der Job bietet ein sicheres Einkommen. Laut "Washington Post" verdienen Russen beim Militär umgerechnet etwa 1100 Euro monatlich - mehr als das Vierfache des Mindestlohns, der bei 250 Euro liegt.

Vor allem für junge Männer ist der Eintritt ins Militär verlockend - wenn sie nicht aus Moskau stammen. In der russischen Hauptstadt liegt das durchschnittliche Einkommen bei etwa mehr als 1000 Euro pro Monat. Das ist der dritthöchste Wert aller 85 russischen Regionen. Als junger Moskauer in die Armee? Das lohnt sich in der Regel nicht.

Ein Blick in die Statistik belegt diese Annahme. Nur elf der zweifelsfrei identifizierten Gefallenen in der Ukraine stammen aus der russischen Hauptstadt. Nur 5 der 85 "Föderationssubjekte" haben weniger Tote zu beklagen. Aus St. Petersburg, der zweitgrößten Stadt Russlands, sind bislang 35 getötete Soldaten bekannt. Vergleichsweise geringe Zahlen in Anbetracht der Tatsache, dass in den beiden Metropolen zusammengerechnet etwa 16,5 Millionen Menschen leben. Das entspricht mehr als elf Prozent der russischen Bevölkerung. 46 tote Soldaten von insgesamt 5185 sind aber weniger als ein Prozent der Gefallenen.

Armutseinberufung? Nicht nur in Russland

Dass große Armeen in einigen wenigen Landesteilen den Großteil ihrer Rekruten finden, ist aber nicht nur in Russland so. Auch die USA rekrutieren vor allem in der Provinz, in wirtschaftlich schwächeren Landesteilen.

1973 wurde die Wehrpflicht in den Vereinigten Staaten abgeschafft. Seitdem ist die Rede vom "Poverty Draft", der Armutseinberufung. Das heißt, vor allem junge Menschen aus ärmeren Regionen der USA zieht es zum Militär. In den Südstaaten - von Virginia bis Texas - gibt es zwei- bis dreimal so viele Rekruten wie in anderen Regionen. Die Armee lockt mit einem sicheren Einkommen und einer Übernahme von Studiengebühren. Veteranen erhalten bis zu zehn Jahre nach ihrem Militärdienst großzügige Finanzhilfen für ihr Studium. Heißt konkret: Für junge Menschen, die sich ihr College nicht leisten können, ist die "US Army" oft die einzige Option.

"Leute haben keine Ahnung von Ukraine"

Putins Mustersoldat sieht derzeit so aus: männlich, jung, arm, kein Bezug zur Ukraine. Idealerweise auch noch Teil einer ethnischen Minderheit. Das trifft auf besonders viele Menschen in Dagestan, Burjatien und Baschkortostan zu.

Dass Russland vor allem junge Menschen aus ärmeren Regionen weit weg von der russisch-ukrainischen Grenze einsetzt, hat mutmaßlich aber noch einen anderen Grund: Präsident Putin will den Krieg so weit wie möglich von vergleichsweise liberalen Schmelztiegeln wie Moskau und St. Petersburg fernhalten, in denen große öffentliche Proteste nicht wahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen sind. Das Leben in den Metropolen soll so normal wie möglich weiterlaufen. Deshalb ist auch weiterhin nicht von einem Krieg, sondern von einer "militärischen Spezialoperation" die Rede.

Aus russischer Perspektive ergebe es Sinn, Soldaten einzusetzen, die aus Familien stammen, die möglichst keine Berührungspunkte mit der Ukraine haben, sagt Experte Weber im Podcast. "Diese Leute haben keine Ahnung, wovon die Rede ist, wenn von der Ukraine gesprochen wird. Sie sind in ihrem Leben aus ihren Dörfern in Ostsibirien nicht herausgekommen. Da gibt es russisches Fernsehen, wenn überhaupt, und das ist es dann auch schon. Ansonsten gibt es da primitive Landwirtschaft, Schnee und Eis und ein paar warme Monate im Sommer."

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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Quelle: ntv.de

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