Der Schlüssel liegt nicht mehr in Moskau – Seite 1

Der ehemalige Botschafter Hans-Dieter Heumann war Diplomat unter anderem in Washington, Moskau und Paris, arbeitete in Leitungsfunktionen im Auswärtigen Amt und im Verteidigungsministerium; bis 2015 leitete er die Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Die alten Strategien, die Russland in Europa einbinden wollten, hält er für gescheitert. Russland selbst habe sich aus dieser erträumten Ordnung verabschiedet. Deshalb fordert Heumann eine neue Ostpolitik, die aus den Fehlern lernt, auf glaubwürdige Abschreckung setzt und gefährliche Abhängigkeiten verhindert – damit es nicht noch schlimmer kommt.

Weder ein Ende des Krieges in der Ukraine noch ein Anfang der Diplomatie ist in Sicht. Die Kriegsparteien verhandeln schon seit April 2022 nicht mehr nennenswert miteinander. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj macht den Rückzug der russischen Streitkräfte auf ihre Position vor dem Beginn des Krieges zur Bedingung von Verhandlungen, der russische Außenminister Sergej Lawrow bezeichnet dies als "nicht ernsthaft". Welche Chancen gibt der Krieg zwischen der Ukraine und Russland der Diplomatie und welche Lehren hält er für sie bereit?

Die Chancen der Diplomatie hängen immer zuerst vom Verlauf eines Krieges ab, von den militärischen Kräfteverhältnissen. Deshalb hat der ukrainische Präsident zu unterschiedlichen Zeitpunkten jeweils unterschiedliche Ziele für Verhandlungen angegeben. Vor den Erfolgen seiner Streitkräfte bei Kiew und Charkiw gab er sich öffentlich bereit, über eine garantierte Neutralität seines Landes, über einen Sonderstatus für den Donbass sowie eine Vertagung der Krim-Frage zu verhandeln. Hiervon ist keine Rede mehr.

Diplomatie kann aber nicht nur den Regeln der Realpolitik folgen: In ihrem Namen aber forderte der frühere US-Außenminister, Sicherheitsberater und Politikwissenschaftler Henry Kissinger auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos kürzlich die baldige Aufnahme von Verhandlungen und empfahl dem ukrainischen Präsidenten, Russland die Rückkehr zum "Status quo ante" vor Beginn des Krieges anzubieten, also den Verzicht auf Teile des Donbass und der Krim. Es sei im Interesse des Friedens in Europa, Russland keine Niederlage beizubringen. Russland dürfe außerdem nicht in die Arme Chinas getrieben werden. Gleich zwei Prinzipien des Völkerrechts werden hier verletzt, dasjenige der territorialen Integrität und das Recht auf Selbstverteidigung.

Die Ironie besteht darin, dass sich in diesem Ansinnen der wohl international bekannteste lebende Vertreter der Realpolitik mit den Nachkommen der Friedensbewegung trifft, zu der auch einmal der jetzige Bundeskanzler gehörte. Seine Warnungen vor einer Eskalation des Krieges werden in den USA, aber auch in Osteuropa als Beschwichtigungspolitik verstanden. Die Angst, die Wladimir Putin verbreitet, ist aber ein schlechter Ratgeber des Westens.

Der Abschreckung fehlte offenbar die Glaubwürdigkeit

Auf das Missverständnis, dass Diplomatie allein der Königsweg zum Frieden ist, hat schon Carsten Luther an dieser Stelle hingewiesen (Der träge Wunsch nach Frieden). Die Ukrainerinnen und Ukrainer bieten Russland in einer Weise die Stirn, die der These von "postheroischen Gesellschaften" (Herfried Münkler) widerspricht. Aber schließlich bekennt auch ihr Präsident, dass der Krieg "nur durch Diplomatie" enden wird.

Die Strategie des Westens im Kalten Krieg, Diplomatie mit militärischer Stärke zu verbinden, hat funktioniert. Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen, auch wenn er das so nicht sagt. Die Sowjetunion und heute Russland wurden bis jetzt von einem Angriff auf das Gebiet der Nato abgeschreckt, aber eben nur der Nato. Die Ukraine konnte vor dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 nicht bewahrt werden, sicher auch weil sie kein Mitglied der Nato ist.

Die entschlossene Reaktion von Nato und Europäischer Union auf den Angriff mag Putin zwar überrascht haben. Er hat sie aber nicht antizipiert, ließ sich nicht abschrecken, obwohl er gewarnt worden war. Als US-Präsident Joe Biden aufgrund von Berichten seiner Geheimdienste spätestens im Herbst 2021 davon überzeugt war, dass der Aufmarsch russischer Truppen an den Grenzen zur Ukraine die Vorbereitung des Krieges war, ließ er Präsident Putin wissen, dass der Westen zu Lieferungen auch schwerer Waffen an die Ukraine und zu harten und umfassenden Sanktionen gegen Russland bereit sei.

Putin hat diese Warnung nicht ernst genommen. Der Abschreckung fehlte offenbar die Glaubwürdigkeit. Hieran trägt Deutschland einen Teil der Verantwortung. In der Koalition zur Unterstützung der Ukraine war es ein wichtiger, aber zu zögerlicher Partner. Es ist zu hoffen, dass eine immer mögliche militärische Niederlage der Ukraine nicht an einem Mangel an schweren Waffen liegt. Dies wäre die bitterste Lehre des Krieges für die Diplomatie, in diesem Fall vor allem für die deutsche.

Russland: autoritär, korrupt, kleptokratisch

Diplomatie ist mehr als die Kunst des Verhandelns. Sie kann erfolgreich sein, wenn sie auf einer strategischen Analyse beruht, die nationale Interessen, Machtverhältnisse, aber auch Vorstellungen von regionaler oder globaler Ordnung, Sicherheitsdilemmata und schließlich die politischen Systeme, das sogenannte Primat der Innenpolitik, in den Blick nimmt.

So war es aus heutiger Sicht ein Fehler, so lange am Konzept einer gesamteuropäischen, Russland einschließenden Ordnung festgehalten zu haben. Russland selbst hat sich im Verlauf der Präsidentschaft Putins von dieser Ordnung verabschiedet, nicht erst mit dem Krieg gegen die Ukraine, sondern mit seinen frühen Ambitionen, eurasische Großmacht und nicht nur Teil im europäischen Konzert zu sein.

Das Verhältnis zwischen Nato und Russland ist ferner ein klassisches Sicherheitsdilemma, das schon Thukydides im 5. Jahrhundert vor Christus in seinem Peloponnesischen Krieg beschrieben hat: Die Sicherheit von Staaten geht immer auf Kosten der Sicherheit von anderen. Da helfen auch Konstruktionen wie der Nato-Russland-Rat nicht. Die Vertragsentwürfe, die im Vorfeld des Krieges in der Ukraine zwischen den USA und Russland ausgetauscht wurden, enthalten übrigens interessante Versuche, das vom Westen verteidigte Prinzip der freien Bündniswahl mit der russischen Forderung nach gemeinsamer Sicherheit zu verbinden.

Schließlich hat der Krieg in der Ukraine auch mit dem politischen System Russlands zu tun. Es ist nicht nur autoritär, mit Putin an der Spitze einer sogenannten "Vertikale", sondern auch korrupt, kleptokratisch. Das System Putin verfolgt keine nationalen, sondern private Interessen. Deshalb konnte auch die Strategie "Wandel durch Handel" beziehungsweise der "Modernisierungspartnerschaft" nicht greifen. Die Macht Putins beruht letztlich auf Gas und Öl. Deshalb ist die Abhängigkeit europäischer Staaten von dieser Energie eine strategische Frage. Der russische Finanzminister Anton Siluanow bestätigte gerade selbst, dass die gestiegenen Einnahmen aus dem Geschäft mit Öl und Gas die russische Kriegsführung finanzieren.

Deutschland muss seine Interessen verstehen

Die Lehren der Diplomatie sollten schon jetzt für die Definition einer neuen Ostpolitik genutzt werden. Der Schlüssel hierfür liegt nicht mehr in Moskau, sondern in Kiew. Es liegt im europäischen Interesse, dass die Ukraine nicht nur den Krieg gewinnt, sondern dass sie sich danach auch erfolgreich entwickelt. Dabei sollte die Europäische Union die führende Rolle spielen.

Europäische Sicherheit ist künftig wohl nicht mehr mit, sondern eher vor Russland zu sichern, jedenfalls so lange, wie Putin im Amt ist. Abschreckung muss glaubwürdig sein. Die eher vorsichtige Reaktion Präsident Putins auf die bevorstehenden Beitritte Finnlands und Schwedens zur Nato zeigen, dass er die Macht der westlichen Allianz respektiert. Deshalb ist es richtig, die Ostflanke der Nato über die Bestimmungen der Nato-Russland-Grundakte hinaus zu stärken. Über die Ausgestaltung der militärischen Präsenz kann verhandelt werden. Dies gilt vor allem für die nuklearen Waffen.

Die neue Ostpolitik muss schließlich eine europäische sein. Sie braucht die politische Führung durch Deutschland und Frankreich und am besten auch durch Polen und die baltischen Staaten. Voraussetzung hierfür ist, dass Deutschland aus den Fehlern seiner Ostpolitik lernt. Dazu gehört ein richtiges Verständnis des nationalen Interesses. Seine vornehmlich wirtschaftliche Definition führte zu Abhängigkeiten, nicht nur von Russland, sondern auch von China. Die von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete "Zeitenwende" steht noch aus.