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Analyse von Joachim Weber: Putins mysteriöse Veränderung 2007: Wer ihn für verrückt hält, macht es sich zu einfach
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April 26, 2022. - Russia, Moscow. - Russian President Vladimir Putin attends a meeting with UN Secretary-General Antonio
IMAGO/Russian Look Russlands Präsident Wladimir Putin.
  • FOCUS-online-Gastautor

Die Frage, wer Wladimir Putin wirklich ist und was ihn antreibt, ist nicht leicht zu beantworten. Bisher spricht jedenfalls nichts für die Annahme, dass er im klinischen Sinne den Verstand verloren haben könnte. Gleichzeitig vergessen viele Putins zweite, unsichere Seite - und seine mysteriöse Charakterveränderung zwischen 2007 und 2008.

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Für die einen ist er schlichtweg verrückt, „völlig durchgeknallt“. Für die anderen ist er ein zynischer, kalt berechnender Stratege, der seine Schachzüge genauestens überlegt, und für deren Umsetzung eiskalt die Währung nackter Gewalt einsetzt, wo immer ihm dies einen Vorteil verspricht. Russlands Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin gibt der Welt einmal mehr Rätsel auf.

Ob nun einfach ein Verrückter – denn sonst würde man doch heute keine Kriege mehr führen? – oder ein rücksichtsloser, kalter Machtpolitiker, was macht das schon für einen Unterschied, mögen manche einwenden, es ändert ja nichts daran, dass Putin mit diesem Krieg offenkundig etwas ganz Verrücktes tut und Tod und Verderben über ungezählte Menschen bringt.

Verrückt oder ein Experte für eiskalt-zynischen Machtpoker? Warum es so wichtig ist, Putin zu verstehen

Aber die Frage ist nicht trivial, sondern es geht einmal mehr darum, Putin zu verstehen, ihn zu enträtseln, ihn auszulesen, denn daraus folgt die Antwort auf die Frage, in welche Richtung es weiter gehen könnte. Also: Verrückt, oder ein Experte für eiskalt-zynischen Machtpoker? Weder das eine noch das andere, wie es scheint.

Spannend, aber gerade keine Zeit?

Bisher spricht nichts, aber auch gar nichts für die Annahme, dass Putin im klinischen Sinne den Verstand verloren haben könnte. Er spricht klar und deutlich, kohärent und verstehbar und vertritt in sich schlüssige Positionen, die er auch schon vor Kriegsbeginn vertreten hat. Er wirkt, wenn er mit Atomwaffen droht, noch ein wenig aggressiver als früher, er wirkt angespannter, er mag hier und da etwas ungehalten oder wütend wirken, aber nichts daran ist ungewöhnlich für ein Staatsoberhaupt, das einen offensiven Großkrieg begonnen und dafür sehr viel auf eine Karte gesetzt hat.

Putin ist in jüngster Zeit oft mit Hitler verglichen worden, aber an vielen Stellen liegt dieser Vergleich schief. Bisher hat er sich nicht völlig verrannt, noch längst nicht alles auf nur eine Karte gesetzt, sein Blatt hoffnungslos überreizt und verantwortungslos das Schicksal seines ganzen Volkes in die Waagschale geworfen.

Wer Putin verstehen will, muss fragen: Über welchen Putin reden wir?

Putin nun aber umgekehrt mit dem Bild des eiskalten Strategen deuten zu wollen, der hochrationale Schachzüge vollzieht, es führt inzwischen genauso in die Irre. Dagegen spricht jede Kosten-Nutzen-Kalkulation des gegenwärtigen Ukraine-Krieges.

Die erste Frage muss daher lauten: Über welchen Putin reden wir? Es ist unstreitig, dass es im Leben aller Menschen so etwas wie Grunddispositionen gibt, etwas also, was zum Leben des Einzelnen dazugehört, Teil seines Soseins ist und ihn trotz aller Veränderungsprozesse in seinem Leben relativ stabil begleitet: Der eine ist extrovertiert, die andere introvertiert, eine ist lebhaft, der andere still und zurückhaltend und bleibt es fast immer lebenslang.

STYLELOCATIONRussian President Vladimir Putin takes a lunch break during a weekend trip with Defense Minister Sergei Sho
imago images/ZUMA Wire

Von Putin wissen wir, dass er sich von Anfang an behaupten und durchsetzten wollte, und das für ihn der Schlüssel dazu immer die Bejahung und Anwendung von Gewalt gewesen ist. So erlernte es es in den Hinterhofschlägereien des Leningrad der Nachkriegszeit, so hat er es beibehalten. Auf die Rüge seiner Lehrer, als er einem Mitschüler das Bein gebrochen hatte, kam die Antwort, dass manche Leute eben nur die Sprache der Gewalt verstünden.

Diese Haltung hat er nie abgelegt. Kaum zum Ministerpräsidenten ernannt, war eine seiner ersten Handlungen 1999 der Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges, um das unbotmäßige Volk an den Grenzen Russlands zur Unterwerfung unter seinen Willen zu zwingen. Dazu wurden gnadenlos Großstädte wie Grosny und später dann Aleppo und heute Mariupol und Sjeweodoneszk mitsamt Zehntausender ihrer Einwohner in Schutt und Asche gelegt, und nicht selten noch Überlebende auf grausame Weise massakriert. 

Experte Sicherheitspolitik Cassis Universität Bonn
jw Experte Sicherheitspolitik Cassis Universität Bonn

Zur Person: Joachim Weber

Dr. Joachim Weber ist Senior Fellow am strategischen Thinktank CASSIS der Universität Bonn und beschäftigt sich mit Fragen strategischer Vorausschau. Er ist Russland- und Arktisexperte, studierter Osteuropahistoriker und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit sicherheitspolitischen Fragestellungen. Jüngste Veröffentlichungen umfassen zwei Bücher zu den geopolitischen Entwicklungen in der Arktis.

Viele vergessen den linkischen, extrem unsicheren Putin ohne großen Plan

Pardon darf nicht erwarten, wer sich mit Putin anlegt, weder Dissidenten daheim noch fremde Völkerschaften. Aber dies ist der handelnde Putin, und um den geht es erst an zweiter Stelle. Was aber will dieser Putin, und welche Gedankenwelt treibt ihn eigentlich an? Die Antwort ist komplex.

Im Gegensatz zu seinen lang andauernden Handlungsmustern zeigt sich schnell, dass Putin nicht von Anfang an eine klare Linie seiner Politik verfolgt und diese abgearbeitet hätte. Der linkische, extrem unsicher wirkende Politiker, den die Launen des Schicksals, nicht aber ein großer Plan im Jahre 2000 ins Präsidentenamt geführt zu haben scheinen, lässt zu Anfang einen klaren Plan vermissen.

Es dauert Jahre, in denen er sich zu orientieren versucht, und in denen er auch einer Zusammenarbeit mit dem Westen nicht abgeneigt scheint. Nato-Osterweiterungen stören ihn in dieser Phase wenig. Sicher scheint: Von Anfang an verspürte er den Wunsch, Russland wieder stark und groß zu machen. Sein Phantomschmerz infolge Russlands Niedergang in den 1990er Jahren – das Wort vom Zusammenbruch der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts – bleibt handlungsleitend, er will Russland wieder aufrichten.

Aber welches Russland? Die Sowjetunion, das Zarenreich, etwas Neues? Schwebt dem „lupenreinen Demokraten“ eine neue, östliche Form von autoritärer Demokratie vor?

Putins mysteriöse Charakterveränderungen zwischen 2007 und 2008

Fakt ist, dass Putin gegen Ende seiner zweiten Amtszeit als Präsident, also in den Jahren 2007 und 2008 sich vom Westen immer stärker bedrängt sieht, ihn harsch zu kritisieren beginnt. Aber er respektiert die Verfassung und wird für vier Jahre wieder Ministerpräsident. Als er 2012 als Präsident auch offiziell an die Macht zurückkehrt, ist er deutlich verwandelt, so sagen es jedenfalls alle, die ihn desöfteren persönlich erlebt oder sich lange und intensiv mit ihm beschäftigt haben. Welchen Einflüssen und Ideologien er in diesen Jahren immer mehr anheim gefallen ist, lässt sich zusammenfassen im Gedankengebäude der Russkij Mir, der russischen Welt, über die an anderer Stelle mehr erzählt werden muss.

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Was aber nun strebt Putin seither immer konsequenter an, was sind seine Vorbilder, seine Ziele?

Es ist keine historisch stimmige, klare Linie erkennbar, es ist eine Ideologie aus willkürlich zusammengesetzten Versatzstücken, die der Mann im Kreml verfolgt. Alles, was die Größe Russlands gemehrt hat, ist gut: starke Zaren wie sein Vorbild Alexander III, aber auch Lenin und Stalin. Doch derselbe Lenin wird, in Putins Rede zum Kriegsbeginn am 24.02.2022, heftig kritisiert, weil er und die Bolschewiki als Russen diese eigentlich gar nicht existente Ukraine künstlich erschaffen hätten.

Mit solchen, in sich häufig widersprüchlichen Geschichtsklitterungen baut der Kremlherrscher ein Vexierbild Russlands, in dem nur noch Größe, Macht und Gewalt als Leitsterne stehen, ein festgefügtes ideologisches Weltbild, das in sich kohärent ist, aber durch starke Geschichtsverbiegungen gekennzeichnet ist. Geschichtspolitik nennt man das: Alles politische Bemühen wird dem Ziel untergeordnet, in eine verklärte, (pseudo-)geschichtliche Welt von einstiger Größe zurückzukehren, die es so nicht wirklich gegeben hat. Und in die es auch keine Rückkehr geben kann, denn nichts, was einmal war, kehrt bekanntlich unverändert zurück, und schon gar nicht in der idealisierten Melange des Besten aus allen Zeiten.

MOSCOW, RUSSIA - MAY 9, 2022: Russia s President Vladimir Putin attends a Victory Day military parade marking the 77th a
IMAGO/ITAR-TASS Russlands Präsident Wladimir Putin hat den Zerfall der Sowjetunion nie verwunden.

Es spricht immer mehr dafür, dass Putin unter einer „Defektpsychose mit überwertigen Ideen“ leidet

Von rationaler Planung und kühlem Kalkül bleiben bei Putin zwar Elemente erkennbar, etwa wie er den Westen in Syrien und anderswo gekonnt vorgeführt hat. Aber klar ist: Dieser Mann will nur eines, Russlands idealisierte Größe mehren, als scheinbar bedeutendste Macht der Welt, und das alles unter ihm als demjenigen, der diese Macht Russlands wiederhergestellt hat und das Land an die Spitze der Nationen geführt hat.

„Defektpsychose mit überwertigen Ideen“, hatte einst ein Armeepsychiater diagnostiziert, der Hitler über lange Zeit regelmäßig beobachten konnte. Hier scheint sich langsam eine Parallele aufzutun, auch wenn Putin noch nicht völlig unerreichbar in diese Welten abgetaucht sein muss, und trotzdem bleibt dies ein beunruhigender Gedanke.

Zwar haben die meisten großen Nationen immer wieder auch Wahnvorstellungen von ihrer Auserwähltheit gehuldigt, keineswegs nur Hitler. Aber es kommt stets drauf an, wie weit diese Gedanken von der Realität entfernt sind: Die Briten zum Beispiel beherrschten mit ihrem Empire wirklich und über lange Zeit große Teile der Welt, und auch die USA erlangten schon Mitte, und – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch klarer eine unangefochtene und herausgehobene Rolle in der Welt.

Im Falle Russlands aber hat es dazu nie auch nur annähernd gereicht, weil stets die andere Seite neben der Fähigkeit zur Gewalt fehlte: Handel, Innovationen, legitime Institutionen und Rechtsstaatlichkeit. Nur auf Gewalt alleine ist kein Imperium zu bauen. Doch es bleibt mehr als fraglich, ob solche Differenzierungen Putin und seinen Führungszirkel in ihrer Ideologie jenseits nüchterner Rationalitäten noch erreichen.                            

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