Gastkommentar

Vorurteile gefährden unser aller Gesundheit – es ist fahrlässig, Covid-19 durch die Systembrille zu betrachten

In der Bekämpfung des neuen Coronavirus geht es auch um den Wettbewerb der Systeme. Während die gebeutelte chinesische Führung gern Heldentum und Hightech zelebriert, übt sich der Westen in Schuldzuweisung und Überheblichkeit. Kurzsichtig ist beides.

Doris Fischer und Maximilian Mayer
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Medizinische, nicht ideologische Siege sind im weltweiten Kampf gegen Covid-19 derzeit gefragt. – Spital im indischen Hyderabad.

Medizinische, nicht ideologische Siege sind im weltweiten Kampf gegen Covid-19 derzeit gefragt. – Spital im indischen Hyderabad.

Mahesh Kumar / AP

Am Anfang ist vieles schiefgelaufen: Die Informationen über das neue Virus wurden nur schleppend verbreitet, die Öffentlichkeit sollte von der Dimension des Problems nicht zu viel wissen, weil man Panik vermeiden wollte, und das Krankenhauspersonal wurde nicht ausreichend geschützt. Erst als die Zahl der Sterbefälle in die Höhe schoss, wurden strikte Gegenmassnahmen ergriffen. Welches Land wird hier beschrieben? Ganz sicher ist dies eine treffende Beschreibung für China, vielleicht aber auch für Italien, die USA, Deutschland und viele andere.

Die Geschichtsforschung wird noch einiges aufdecken müssen. Vermutlich verbreitet sich das als Sars-CoV-2 bezeichnete neuartige Virus bereits seit November 2019 in der chinesischen Industriemetropole Wuhan. Ärzte wurden auf das neue Virus im Laufe des Dezembers aufmerksam und weihten die Behörden wohl gegen Ende Dezember ein. Peking informierte die Weltgesundheitsorganisation ebenfalls Ende Dezember über das neue Virus, während erste gentechnische Analysen erstellt wurden. Allerdings unterdrückten Behörden entscheidende Informationen über das Virus bis zum 20. Januar. Insbesondere, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragbar ist, wurde weder national noch international offiziell verkündet.

Ein Land kommt zum Erliegen

Chinesische Wissenschafter und Firmen hatten zu diesem Zeitpunkt schon die Entwicklung und Produktion von Testverfahren hochgefahren, gleichwohl wurden die Reiseaktivitäten und Festivitäten um das chinesische Neujahrsfest nicht untersagt. Gegen Mitte Januar war die Situation in der Hauptstadt der Provinz Hubei immer weiter ausser Kontrolle geraten. Am 23. Januar entschied der engste Führungskern um Präsident Xi, die Bewohner Wuhans komplett unter Quarantäne zu stellen und die Stadt mit einem Cordon sanitaire zu umgeben, kurz darauf eine Reihe weiterer Städte in der gleichen Provinz.

Heldentum und Hightech, alles in einem – deutlich wird, dass die Epidemie in den Dienst geopolitischer Überlegungen gestellt wird.

Das öffentliche Leben in ganz China kam ab diesem Moment weitgehend zum Erliegen, da Schulen, Universitäten, Restaurants und das produzierende Gewerbe über die Neujahrsferien hinaus weiterhin geschlossen blieben. Die Situation in Wuhan und einigen Nachbarstädten nahm dramatische Formen an, weil das Krankenhaussystem nicht auf den Ansturm von so vielen Verdachtsfällen vorbereitet war. Vor allem aber hat die hohe Zahl von schwersten Krankheitsverläufen, die zum Teil mehrwöchige intensive medizinische Versorgung unter Quarantänebedingungen erfordern, die Krankenhäuser und ihr Personal an die Grenzen des menschlich Möglichen gebracht. Daher wurden ab der zweiten Februarhälfte Verdachtsfälle und Personen, die zwar infiziert waren, aber nur milde Symptome zeigten, in separaten Quarantänestätten untergebracht.

Inzwischen hat die chinesische Regierung die Strategie erneut geändert. Wuhan und Hubei stehen sogar unter einem noch strikteren Quarantäneregime, um die Verbreitung des Virus von dort zu verlangsamen, und Chinas Machtzentrum Peking wird durch strikte Massnahmen vor der Einschleppung des Virus geschützt. Der Rest des Landes ist dagegen aufgefordert, unter strenger Beachtung von Hygieneregeln und wenn nötig lokalen Quarantänemassnahmen die Produktion wiederaufzunehmen und allmählich zum normalen Leben zurückzukehren. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass die Anzahl der Neuansteckungen ausserhalb Wuhans fast überall auf null gedrückt worden ist. In Wuhan selbst sinkt die Zahl der Neuinfizierten laut offiziellen Angaben tendenziell seit zwei Wochen. Um Neuausbrüche möglichst im Keim zu ersticken, wurde kürzlich eine digitale Gesundheits-App landesweit eingeführt, die zum Infektionsketten-Tracing und mehrmals täglich zum Gesundheits-Check genutzt wird.

Sich keine Blösse geben

Auch wenn es für eine abschliessende Beurteilung der Entwicklung in China noch viel zu früh ist, können wir annehmen, dass die hierarchische Ordnung des Landes und die von Zensur- und Meinungssteuerung gekennzeichnete Parteipolitik der letzten Jahre nicht förderlich dabei waren, den Ausbruch des Virus intern und gegenüber der Bevölkerung zu kommunizieren. Die chinesische Regierung hat im Laufe des Februars nach einer kurzen Phase der Lockerung die Kontrolle der traditionellen Medien und der sozialen Netzwerke deutlich verschärft.

Darüber hinaus wissen wir nicht, welche Überlegungen anfangs dazu geführt haben, dass die chinesische Regierung die Verbreitung von Informationen unterdrückt hat: Hat man die Situation mit dem unbekannten Virus falsch eingeschätzt, wollte man wissenschaftliche und medizinische Vorbereitungen treffen, bevor die Öffentlichkeit informiert wurde? Oder war die Situation womöglich ab Dezember schon von dem Handelskonflikt zwischen den USA und China geprägt?

Es ist also durchaus naheliegend, dass die chinesische Seite sich keine Blösse geben wollte. Die offizielle Propaganda versucht jedenfalls seit einigen Wochen den Kampf gegen das Virus als Volkskrieg darzustellen, der von der Bevölkerung und ihren Helden gewonnen werden soll und letztlich die Stärke der chinesischen Nation dokumentieren wird. Immer wieder wird betont, dass nur der «Sozialismus mit chinesischer Prägung» in der Lage sei, so massiv und erfolgreich gegen die Epidemie anzusteuern. Heldentum und Hightech, alles in einem. Diese und andere Narrative zeigen deutlich, wie die Epidemie inzwischen in den Dienst geopolitischer und geoökonomischer Überlegungen gestellt wird.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die internationale, insbesondere die amerikanische Reaktion auf den Virusausbruch in China in weiten Teilen ebenfalls der Logik des Systemkonflikts gefolgt ist. Die Berichterstattung und Kommentierung fokussierte international vor allem auf die grundsätzlichen Defizite des chinesischen Systems, die Essgewohnheiten von Chinesen, auf Voraussagen, dass dieses Virus die Regierung Xi Jinpings gefährden werde, und auf die vermeintliche Unmenschlichkeit der Quarantänemassnahmen. Vor allem in den USA häuften sich Berichte, die im Zusammenhang mit Covid-19 vor allem die Unfähigkeit oder die potenzielle Destabilisierung des chinesischen Systems diagnostizierten. In den sozialen Netzwerken häuften sich die Schimpftiraden, und im Alltag mussten chinesisch aussehende Menschen im Ausland Ausgrenzung und Ressentiments ertragen.

Selbst jetzt, wenn deutlich wird, dass sich das Virus schleichend bereits in anderen Ländern multipliziert hat, übt man sich in dem Optimismus, dass dies alles zumindest in den Industrienationen nicht so dramatisch werden könne, da die Krise in China ja nur deshalb so unkontrollierbar geworden sei, weil das Gesundheitssystem schlecht vorbereitet gewesen sei. Hier spielt die weitverbreitete Annahme mit, dass China noch immer viel weniger entwickelt und das politische System sowieso korrupt und unfähig sei. Im Zweifelsfall, so die Argumentation, seien Demokratien um ein Vielfaches fähiger, mit einer derartigen Situation umzugehen.

In keinem Plan vorgesehen

Es sind diese Vorurteile, die sich nun als gefährliche Fehlschlüsse erweisen könnten. Ja, vieles deutet darauf hin, dass das Virus von einem Frischwarenmarkt aus Verbreitung gefunden hat und dies geschehen konnte, weil der Verzehr von allerlei Getier, das man sich in Europa kaum als essbar vorstellen kann, dabei in irgendeiner Form eine Rolle spielte. Aber nachdem das kapriziöse Virus einmal seinen Weg zum Menschen gefunden hat, ist dieses Detail für die Eindämmung unerheblich. Die Überlastung der Krankenhäuser in Wuhan und den Nachbarstädten hing sicher damit zusammen, dass man unmöglich auf das Anschwellen der Patientenzahlen vorbereitet sein konnte. Was dazu notwendig ist an Ausrüstung wie Mundschutz, Handschuhen, Schutzbrillen und Beatmungsgeräten übersteigt einfach alles, was irgendein Pandemieplan bis dato vorgesehen hätte.

Auch die Belastung des Personals war überwältigend, zumal auch klinisches Personal von dem Virus stark betroffen ist. Die chinesische Regierung hat nicht umsonst landesweit personelle Unterstützung zusammengetrommelt. Das Pathos, mit dem diese Materialschlacht begleitet wurde, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Belastung des chinesischen Spitalsystems noch immer gigantisch und die Versorgung anderer Patienten nicht gewährleistet ist. In China sterben Ärzte und Pfleger aber nicht an Erschöpfung, weil das System marode oder unmodern ist, sondern weil die durch das Coronavirus bedingten Patientenmassen einfach jeden überwältigten.

Die Welt könnte sich mittels dieses Wissens besser vorbereiten, wäre sie denn nicht vom Gedanken des Systemwettbewerbs abgelenkt. Seit knapp zwei Jahren erleben wir ein ständiges verbales Aufrüsten, insbesondere zwischen den USA und China, das uns glauben machen will, dass alles, was aus China komme, gefährlich sei. Die Angst davor, dass die chinesische Regierung über lautere und unlautere Mittel die Weltherrschaft erreichen wolle, vernebelt inzwischen vielen den Blick. Alles, so hat man manchmal den Eindruck, wird im Kontext von Geopolitik und Geoökonomie mit Misstrauen überzogen. Zugleich wird eine grosse Selbstgenügsamkeit genährt bezüglich der vermeintlichen Überlegenheit des Westens.

Von chinesischem Know-how profitieren

Es geht hier nicht darum, die Demokratie infrage zu stellen. Es geht darum, deutlich zu machen, dass der Westen ebenso wie China Gefahr läuft, vor lauter Systemwettbewerb-Rhetorik und -Denken falsche Entscheidungen zu treffen. In den USA scheint die Haltung weit verbreitet, dass, was nicht sein darf, auch nicht sein kann: dass auch ein liberal-demokratisches System anfällig ist. Die sich häufenden Todesfälle im Staat Washington deuten darauf hin, dass sich die Infektion dort schon länger unbemerkt ausbreitete. Tatsächlich fehlen in den USA Testkapazitäten, und Millionen von Menschen sind dem Virus ohne Krankenversicherung ausgeliefert. Aber auch mit Blick auf Deutschland fragt man sich, warum die warnenden Worte, dass dieses Virus viel ansteckender sei als Sars, nicht frühzeitig genutzt wurden, um die Versorgung der Krankenhäuser mit Desinfektionsmitteln, Schutzkitteln und anderem sowie ihre Pandemiepläne zu überprüfen. Im Gegensatz zu den chinesischen Behörden kann sich eigentlich keiner mehr darauf berufen, dass die Gefährlichkeit des Virus und damit die Herausforderung für das Gesundheitswesen nicht bekannt waren.

Internationale Abschottung, wie sie gegenwärtig einsetzt, wird auf Dauer nicht hilfreich sein. Auch und gerade im Pandemiefall ist Kooperation wichtig und Handel nicht Teil des Problems, sondern der Lösung. Zum Beispiel dürfte China bald wieder Schutzmasken und andere medizinische Güter exportieren, da es dort zu einer massiven Ankurbelung der Produktion kam. Auch was die Testverfahren und die Nachverfolgung der Infektionsketten betrifft, könnten wir schon jetzt vom chinesischen Know-how profitieren.

Inmitten der drohenden Pandemie sollte dringend die Systembrille abgesetzt werden, die uns vorgaukelt, nur in China könnte die Situation derart eskalieren wie in der Millionenmetropole Wuhan. Das meiste, was hierzulande an Seuchenbekämpfungsmassnahmen diskutiert wird, könnte sich schon bald als nicht ausreichend herausstellen, um die Epidemie zu stoppen. Wer glaubt, es gebe einfache Alternativen dazu, Covid-19 einzudämmen, sollte dringend den WHO-Bericht über China/Wuhan durchlesen. Zu akzeptieren, dass sich 40 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit dem neuen Coronavirus infizieren könnten, und dabei auszublenden, dass dies nicht wie in Wuhan zu einem zeitweiligen oder gar längerfristigen Kollaps des Gesundheitssystems führen würde, ist tollkühn. Um sich dies einfach zu vergegenwärtigen, hilft eine kaum beachtete, doch entscheidende Zahl: In Wuhan haben sich lediglich 0,5 Prozent der Bevölkerung mit Sars-CoV-2 infiziert. Mehr war nicht nötig, um die «Hölle auf Erden» wahr werden zu lassen, wie es ein Einwohner der Stadt in seinem Tagebuch notierte.

Doris Fischer ist Inhaberin des Lehrstuhls China Business and Economics an der Universität Würzburg. Maximilian Mayer ist Assistant Professor of International Studies an der Universität Nottingham Ningbo China (UNNC).