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Gastbeitrag von Joachim Weber : Der strahlende Sieg Kiews ist eine schöne Idee - Wirklichkeit wird sie nicht
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Der ukrainische Präsident Wolodymyr überreicht einem Soldaten für seinen Einsatz in Bachmut eine Medaille.
IMAGO/Cover-Images Der ukrainische Präsident Wolodymyr überreicht einem Soldaten für seinen Einsatz in Bachmut eine Medaille.
  • FOCUS-online-Gastautor

Es gibt eine klare Korrelation zwischen der Länge eines Krieges und seiner Ausweitungstendenz. Im Falle von Putins Ukraine-Krieg sollten wir das auf keinen Fall riskieren. Mehr Waffen für Kiew oder Einstellung der Hilfe? Was für den Westen jetzt politisch klug wäre.

Ein volles Jahr Krieg in der Ukraine, und ein Ende weiterhin unabsehbar. Das Ausmaß menschlichen Leids ist nicht zu beziffern und entzieht sich jedweder Vorstellung, und über die Zahl der Kriegstoten auf beiden Seiten der Frontlinien gibt es nur vage Schätzungen oberhalb der 100.000er Linie. Die materiellen Schäden, direkte wie indirekte, sind wohl schon jetzt weit jenseits der Billionengrenze.

Zu dieser Summe gehören mindestens 350 Mrd. Euro an direkten Schäden in der Gesamtheit der ukrainischen Wohn- und Infrastrukturen, hohe, zumindest zweistellige Milliardenbeiträge für direkte Kriegsausgaben beider Seiten, aber auch die indirekten Kosten z.B. für wirtschaftliche Ertragsausfälle (über 30 Prozent BIP-Einbruch in der Ukraine) oder höhere Energiekosten in fast allen Ländern und die allein für Deutschland schon jetzt mit mehr als 150 Milliarden Euro zu Buche schlagen.

Dieser Krieg markiert eine neue Epoche in Europa

Was bedeutet das alles für uns, für unser Leben in Europa und unsere Sicherheit? Nach einem Jahr Krieg scheint der tägliche Frontbericht fast normal, aber es könnte eine trügerische Gewöhnung sein, die eine dauerhafte Beherrschbarkeit des Ganzen suggeriert. Wie geht es weiter, und wovon können wir als gesicherte Erkenntnis einstweilen ausgehen? Fassen wir noch einmal zusammen:

Erstens markiert dieser Krieg den Beginn einer neuen Epoche in Europa und der Weltpolitik. Die ein Dreivierteljahrhundert in Europa einigermaßen eingehegte Bestie des Krieges ist wieder frei, der Staatenkrieg großen Maßstabs ist als Realität der Politik wieder da.

Dies ist in Deutschland mit dem Begriff der „Zeitenwende“ früh benannt worden, aber wie es scheint in vielen Köpfen noch immer nicht wirklich angekommen und lässt angemessene Aktivitäten zur Behebung unserer Verletzlichkeit weiter vermissen. Doch es gibt kein zurück in die Welt vor dem 24.02.2022, und wir sind keine neutralen Zuschauer, sondern Beteiligte in einer neuen Epoche radikalen Wandels.

Wir haben Mitsprache - und sollten sie für uns nutzen

Zweitens erstaunt weiter, dass die Ukraine noch immer standhalten kann, auch wenn klar ist: Ohne das enorme Ausmaß der westlichen Unterstützung auf allen denkbaren Ebenen würde die Ukraine wohl binnen weniger Wochen vor dem Aus stehen, besetzt, zerschlagen und als unabhängiges Land von der Karte Europa verschwinden.

Das bedeutet nicht nur ein enormes Ausmaß an Mitverantwortung in Washington, London, Berlin, Paris und vielen anderen Nationen in EU und Nato. Es bedeutet auch, dass wir Mitsprache haben und beanspruchen müssen. Wir können nicht auf Dauer eine „short of war-policy“ betreiben, bei der wir auf allen Ebenen massiv gegen Moskau vorgehen, aber blauäugig verkünden, dass man in Kiew (oder Moskau) entscheiden müsse, wohin das alles noch führen soll. „Tua res agitur“, „Deine Sache wird verhandelt“, hieß es schon im alten Rom, es geht auch um unsere Haut.

Und damit sind wir bei der Kriegsgefahr. Aus der Forschung ist bekannt: Es gibt eine klare Linie der Korrelation zwischen der Länge eines Krieges und seiner Ausweitungstendenz („protracted war“). Mit anderen Worten: Man muss nur lang genug zuwarten, dann kann man die Ausweitung der Kampfzone und den (direkten) Kriegseintritt anderer involvierter Mächte oder Mächtegruppierungen mit stark steigender Wahrscheinlichkeit erleben, sei es aus Mißverständnissen, Fehlkalkulationen oder aus der Absicht daran interessierter Akteure. Dies sollten wir nicht riskieren, aber können wir es auf Dauer überhaupt vermeiden?

Ein ukrainischer Soldat blickt auf eine Gruppe flüchtender Menschen in der Ukraine.
AFP via Getty Images Ein ukrainischer Soldat blickt auf eine Gruppe flüchtender Menschen in der Ukraine.

Eine Zerschlagung der Ukraine kann der Westen nicht zulassen

Die vorläufige Antwort ist eher ernüchternd, denn es gibt im Prinzip nur drei Möglichkeiten eines nicht durch Verhandlung beendeten Kriegsendes, gerade wenn es sich auf zwei Teilnehmende beschränkt: A gewinnt oder B gewinnt, oder es endet in einem Patt, bei dem beide Seiten in völliger Erschöpfung die Kampfhandlungen einstellen müssen. Im Fall des Ukrainekrieges ist nach einem Jahr der Kampfhandlungen offenkundig, dass keine der beiden Seiten einen klaren Sieg davontragen dürfte.

Die Niederlage Kiews und die Zerschlagung der Ukraine wird und kann der Westen auch nicht zulassen, dafür steht zu viel auf dem Spiel. Eben deshalb rutscht er immer weiter hinein in das Geschehen als eine de facto-, wenn auch nicht de iure-Kriegspartei.

Und umgekehrt: Mit einer Niederlage, definiert als Rauswurf aus dem Donbass und der Krim, wird Russland sich nicht abfinden, denn für Moskau steht alles auf dem Spiel: Nicht nur das Schicksal der Regierung Putin, das Schicksal der ganzen russischen Elite, ja das Schicksal des Riesenreiches selbst. Man wird mit hoher Wahrscheinlichkeit jede Karte ziehen, die im Blatt ist, um eine drohende Niederlage abzuwenden. Die Bestie, einmal freigelassen, folgt ihren eigenen Dynamiken.

Über den Gastautor

Dr. Joachim Weber ist Senior Fellow am CASSIS-Strategiezentrum der Universität Bonn und lehrt und forscht dort zu Themen von Strategie und Sicherheitspolitik. Er gilt als Experte für Russlandfragen und den Hohen Norden, maritime Sicherheit, Rüstungspolitik und Streitkräfte. Daneben ist er Non-resident Senior Fellow am Institut für Sicherheitspolitik bei der Universität Kiel (ISPK). Der Autor blickt auf eine längere Laufbahn in diversen Bundesbehörden und Bundesministerien zurück mit früheren Tätigkeiten im Bereich von Bevölkerungsschutz und kritischen Infrastrukturen, maritimer Sicherheit und Rüstungswirtschaft.

Russland kann nicht allein durch Sanktionen in die Knie gezwungen werden

Was bedeutet das nun alles für die konkrete Situation im Spätwinter 2023? Wir wissen schon jetzt, dass Russland weiter auf eine militärische Lösung zur Ergebnissicherung setzt, und die Winteroffensive mit noch weiterer Erhöhung des militärischen Drucks hat bereits begonnen.

Dahinter steht die Logik des Abnutzungskrieges: Es gibt 100 Millionen mehr Russen als Ukrainer, Moskau ist rohstofflich und energetisch autark, die Rüstungsindustrien arbeiten Tag und Nacht im 24h-Betrieb, und die Wirtschaft ist von westlichen Sanktionen fast unbeschadet, während an die 80 Prozent der Russen laut unabhängiger Umfragen weiter hinter Präsident Putin stehen.

Noch nie ist es gelungen, einen so gut aufgestellten Gegner alleine durch Sanktionen in die Knie zu zwingen. Auch in Moskau wird inzwischen davon gesprochen, dass die vollständige Eroberung des Donbass wohl noch ein bis zwei Jahre dauern könnte. Halten wir, hält die in Schutt und Asche fallende Ukraine das noch Jahre durch, und ist das überhaupt sinnvoll?

Ein Hineinstolpern in eine Ausweitung des Krieges hilft niemandem

Einige selbsternannte Sicherheitsexperten meinen, dass der Westen jede Hilfe für Kiew einstellen solle, damit der Krieg schnell endet. Das ist so töricht, dass man es kaum ernsthaft kommentieren kann. Die Folge wäre eine Einschmelzung der Ukraine und eine Säuberung unvorstellbaren Ausmaßes, die in ihrer Brutalität nicht mehr weit von Stalins Terror der 1930er Jahre entfernt sein dürfte.

Wir würden darüber nicht nur mit schrecklichen Konsequenzen konfrontiert, sondern uns selbst und unsere Zivilisation verraten. — Also mehr Waffen für Kiew? Bedacht! Auch die anderen Trommler und Schlafwandler, die ebenso „gut" mit „gutgemeint“ verwechseln, dürfen nicht die Oberhand gewinnen. So klar Russland jedwede Art von Völkerrecht verletzt, so wenig hilft das Hineinstolpern in eine Ausweitung des Krieges, die im Entscheidungskampf zwischen Nato und Russland zu enden droht. Es ist realistische Klugheit nötig, die nicht vom Wünschenswerten ausgeht, wie die Moralisten und Legalisten, sondern vom Erreichbaren als immergültige zentrale Kategorie politischer Vernunft.

Auch im Westen mehren sich derzeit langsam, aber vernehmlicher die realistischen Stimmen (z.B. jüngst die RAND-corporation), die nicht davon ausgehen, dass Kiew in diesem Jahr (oder überhaupt?) den ganzen Donbass zurückerobern könne, noch gar die Krim gleich dazu. Dafür spricht jedenfalls wenig, und es wäre schon viel gewonnen, wenn Kiew sich weiter behaupten kann.

Soldaten der russischen Armee üben auf einem Truppenübungsplatz im Gebiet Donezk.
Alexei Alexandrov/AP/dpa Soldaten der russischen Armee üben auf einem Truppenübungsplatz im Gebiet Donezk.

Wie kann ein Sieg in Kiew überhaupt aussehen?

Niemand will der Ukraine das Recht auf eine Rückkehr ihrer besetzten Gebiete und auf umfassende Genugtuung absprechen. Aber es könnte Wege realistischer Klugheit geben, die zwischen den Extremen bipolarer Kurzsichtigkeit liegen. Die Ukraine zu retten, bedeutet in dieser Perspektive vorrangig, den für das Land zerstörerischen Krieg, in dem es ausblutet, zu einem Ende zu führen, auch wenn zu diesem Zeitpunkt nicht alle Gebiete befreit sein sollten.

Der strahlende Sieg Kiews ist eine schöne Idee, aber wie soll er aussehen? Selbst wenn es wider alle Erwartungen gelänge, die Russen aus dem Donbass komplett zu vertreiben, so wäre damit kein Kriegsende erreicht, sondern nur ein Zustand wie 2014: Andauernder Stellungskrieg, der über Jahre ständig in neuen Offensivversuchen wieder zu eskalieren drohte. Solange nicht Moskau besetzt wird, gibt es keinen endgültigen „Sieg“ der Ukraine, seit Clausewitz können wir das wissen.

Jeder, der in den Kategorien eines „Siegfriedens“ über Russland denkt und Putin vor einen Gericht sehen möchte, hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und das sind nicht zuletzt die russischen Nuklearwaffen, die auch weiter zwischen dem „gut“ und dem „gutgemeint“ stehen. Sie bleiben, auch jenseits der voreiligen und angsterfüllten „Selbstabschreckung“, das Menetekel an der Wand.

Verhandlungen werden nicht ohne schmerzhafte Kompromisse einhergehen

Und wir? Wir hängen in diesem Kampf mit drin als Teil des Westens, wird sind parteiisch und können auch kaum anders, aber der Weg zum Ziel des Kriegsendes ist wie immer im realistischen Gefüge ein doppelter: (Ver-) Handeln aus der Position der Stärke, d.h. Stärkung der Ukraine, auch militärisch weiter mit dem Erforderlichen bis zu dem Punkt, der Moskau die Unmöglichkeit der Zerschlagung seines Nachbarlandes erkennen muss. Und dies bei gleichzeitiger, unbedingt ernstgemeiner Bereitschaft, auf dem Wege von Verhandlungen, und wenn nicht vor, dann zumindest hinter der Kulisse, und unter Beteiligung der Ukraine.

Für Putin-Russland ist es sowieso ein Kampf des „kollektiven Westens“ gegen sein Land. Für einen Weg zu Verhandlungen gibt es diskussionswürdige Vorschläge, und wie alle „große Politik“ wird dies nicht ohne schmerzhafte Kompromisse gehen. Und selbst wenn diese eine vertraglich konsentierte Waffenstillstandslinie irgendwo im Donbass auf lange Zeit zur Folge haben könnte und jedes Misstrauen gegenüber Putin  berechtigt bleibt: Das Regime Putins würde wahrscheinlich schon durch ein solches Scheitern seiner Eroberungsabsichten langfristig stark geschwächt. Zumindest das erhebliche Übermaß an thermischer Energie würde jedenfalls dem Prozessverlauf dieses wohl nicht auf Ewigkeit einhegbaren Krieges entzogen.

Alles andere riskiert, auf Dauer in einer Pokerpartie nach dem Muster des „alles oder nichts“ zu enden, mit völlig umkalkulierbaren Konsequenzen für weit über 500 Millionen Menschen in Europa und darüber hinaus. Wir sollten das nicht, felsenfest überzeugt von unserer gerechten Sache, achselzuckend in Kauf nehmen. Wege der Klugheit sind in der Politik nicht immer direkte Wege.

Wissen zum Ukraine-Krieg: Russland unter Putin

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