Gastkommentar

Europa leistet sich immer noch eine erstaunliche strategische Kurzsichtigkeit

Spätestens seit unter Präsident Trump die Bündniszusage der USA brüchig geworden ist, dämmert es Europa, dass es selber mehr militärische Eigenverantwortung übernehmen muss. Dennoch wird mehr geschwatzt als getan, und insbesondere Deutschland kommt seiner Führungsrolle nicht nach.

Maximilian Mayer und Enrico Fels
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Der Eurofighter hätte eine bemerkenswerte Kampfkraft – doch sind gemäss «Spiegel» in Deutschland derzeit wegen technischer Probleme nur rund zehn Jets für echte Einsätze startklar. (Bild: Vadim Ghirda / ap)

Der Eurofighter hätte eine bemerkenswerte Kampfkraft – doch sind gemäss «Spiegel» in Deutschland derzeit wegen technischer Probleme nur rund zehn Jets für echte Einsätze startklar. (Bild: Vadim Ghirda / ap)

Noch nie seit Ende des Kalten Krieges war europäische Aussenpolitik so herausfordernd. Während es unbestritten ist, dass wirtschafts- und sicherheitspolitische Interessen klarer formuliert werden müssen, wird die herausragende Bedeutung eines strategischen Ansatzes zu deren Umsetzung oft übersehen. Wozu aber eine Strategie entwerfen? Und warum versagt Europa beim strategischen Denken?

Eine Strategie ist vereinfacht gesagt eine wirksame Verknüpfung von klar definierten langfristigen Zielen mit mehreren Handlungsoptionen, die mittels adäquater Kapazitäten und Instrumente verwirklicht werden können. Auch wenn die Aussenwelt teilweise chaotisch und unüberschaubar ist, erlaubt strategisches Handeln eine gewisse Steuerbarkeit und Berechenbarkeit, welche die staatspolitische Praxis einer globalen Macht kennzeichnet.

Worthülsen und Plattitüden

Tatsächlich scheinen die Entscheider in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten auf viele der grossen weltpolitischen Umwälzungen, die Europa unmittelbar betreffen, vor allem sprunghaft und unsystematisch zu reagieren. Wie mit der eskalierenden Sicherheitslage in der unmittelbaren Nachbarschaft umgehen? Wie und warum das transatlantische Verhältnis retten? Wie die Beziehungen zu anderen Grossmächten gestalten?

In Anbetracht der Fülle von inneren Problemen mag es für viele Regierungen kaum Restaufmerksamkeit für aussereuropäische Herausforderungen geben.

Auf diese brennenden Fragen finden Europas politische Eliten derzeit keine überzeugenden Antworten. Man verharrt zu oft in einer reaktiven Haltung. Die Debatten über Chinas Aufstieg, das wiedererstarkte Russland oder die Umorientierung des transatlantischen Partners USA sind beispielhaft hierfür. Zwischen Worthülsen und Plattitüden bleiben realistische Mittel und Optionen, welche Europa in diesen immer ambivalenter und spannungsreicher werdenden bilateralen Beziehungen zur Wahl stehen, typischerweise unbestimmt.

Ist das Auf-Sicht-Fahren zum Dauerzustand geworden, so signalisiert es Strategie- und Konzeptlosigkeit. Dieser Zustand ist einerseits der Dauerüberlastung europäischer Politik geschuldet, die sich schwerpunktmässig mit einer Vielzahl innereuropäischer Probleme auseinandersetzen muss. Im Anbetracht von Brexit, Populismus, islamistischem Terrorismus sowie Staatsschulden- und Flüchtlingskrise mag es für viele Volks- und Regierungsvertreter kaum Restaufmerksamkeit für aussereuropäische Herausforderungen geben.

Andererseits sind diese Denkblockaden auch ein Erbe des Kalten Krieges. Unter dem nuklearen Schutzschirm der USA waren autonome sicherheitspolitische Überlegungen der Europäer als intellektuelle Fähigkeit eher unerwünscht. Im pazifistischen Deutschland, das mit dem Verweis auf seine NS-Vergangenheit lange eine bequeme Trittbrettfahrerposition in sicherheitspolitischen Fragen einnehmen konnte, ist zudem die realistische Denkschule verpönt.

Von der «Machtvergessenheit» (Hans-Peter Schwarz) leitet sich dann auch eine persistente deutsche Führungsschwäche ab – oft zum Nachteil der EU. Denn die Aussensituation Europas hat sich dramatisch verändert. Sie zwingt die Europäer, selbständiger zu werden. Strategische Prinzipien wie die «Führung in Partnerschaft» (James D. Bindenagel) oder «dienendes Führen» (Leon Mangasarian und Jan Techau) böten hierzu Orientierung an. Öffentliche Debatten sind jedoch noch immer gekennzeichnet von Moralismus, Provinzialismus und einer erstaunlichen strategischen Kurzsichtigkeit. Dies verträgt sich schlecht mit den strategischen Komplexitäten, mit denen Deutschland und die EU konfrontiert sind, und ist häufig kontraproduktiv für den europäischen Zusammenhalt – wie Ex-Bundesaussenminister Sigmar Gabriel in seiner Rede auf der diesjährigen Münchener Sicherheitskonferenz anerkannte.

Deutschlands (Kriegs-)Führungsschwäche

Umso gravierender offenbart sich, dass Deutschlands strategische Selbstfindung noch in der Pubertät steckt. Gabriel erklärte zwar in einem «FAZ»-Gastbeitrag, dass die vegetarischen Europäer nun «Flexitarier in einer Welt der Fleischfresser» werden müssten. Doch im selben Zuge negierte er die Notwendigkeit, das deutsche Verteidigungsbudget zu erhöhen, um substanzielle militärische Kapazitäten für die europäische Sicherheit beizusteuern zu können.

Deutschlands Führungsübernahme bei der gedachten Nato-«Speerspitze» in Osteuropa offenbart eklatante Sachmängel. Für die der Bundeswehr ab Frühjahr 2019 zugedachte Rolle zur Abschreckung Russlands fehlt es an Panzern, Zelten und Winterkleidung. Die beschränkte Einsatzbereitschaft der durch 14 internationale Missionen überdehnten deutschen Streitkräfte stellt laut André Wüstner, dem Vorsitzenden des Bundeswehrverbands, auch andere Bündniszusagen infrage. Politische Zielformulierung und bereitgestellte Instrumente stimmen offensichtlich nicht überein.

Die Behebung dieses strategischen Defizits ist wichtig, aber braucht Zeit. Neben adäquater Ausstattung der deutschen und dem Aufbau von europäischen Streitkräften hat die fundierte und pluralistische Politikberatung eine Kernbedeutung. Universitäten, Forschungsinstitute und Denkfabriken informieren Öffentlichkeit wie Politik, unterstützen Strategiebildung und bereiten indirekt politische Entscheidungen vor.

Um Perspektivverengung und einseitige Parteinahme zu vermeiden, sollten Denkfabriken hierbei in die Rolle des «ehrlichen Maklers» (Roger A. Pielke) schlüpfen. Beispielsweise werden mögliche Reaktionen auf Chinas globale Machterweiterung – und gleichermassen auf aussen- und sicherheitspolitische Schritte Washingtons, Moskaus oder Ankaras – idealerweise in Form von unterschiedlichen Szenarien diskutiert.

Schwarz-Weiss-Schemata, alternativlose Massnahmenkataloge oder «policy advocacy» sind hingegen selten zielführend. Experten erfüllen ihre wichtige Mission dann am effektivsten, wenn sie auf Basis einer objektiven Zustandsbeschreibung nicht nur unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten präsentieren, sondern auch deren jeweilige Vor- und Nachteile sowie Opportunitätskosten analysieren. Schliesslich ist die Methode, aussenpolitische Expertise im Rahmen von politischen Wahlmöglichkeiten zu präsentieren, zugleich heilsam gegen strategische Verkümmerung.

Maximilian Mayer lehrt an der Tongji-Universität Schanghai und Enrico Fels an der Universität Bonn.