Interview

Völkerrechtler Herdegen: «Nur weil wir Kampfpanzer liefern, sind wir noch keine Kriegspartei»

Vor dem Treffen der Ukraine-Unterstützer in Ramstein diskutiert Deutschland über die Lieferung von Leopard-2-Panzern. Matthias Herdegen, Professor für Völkerrecht an der Universität Bonn, sagt, diese Waffen seien notwendig, damit sich die Verteidiger erfolgreich wehren könnten. Nur dann könne Russland zu Verhandlungen gezwungen werden.

Marco Seliger, Berlin 5 min
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Im Juni 2019 nimmt ein deutscher Leopard-2-Kampfpanzer an einer Nato-Übung in Polen teil.

Im Juni 2019 nimmt ein deutscher Leopard-2-Kampfpanzer an einer Nato-Übung in Polen teil.

Sean Gallup / Getty

Herr Professor Herdegen, deutsche Politiker diskutieren die Lieferung von Leopard-Kampfpanzern an die Ukraine. Hätten wir damit nicht endgültig die Schwelle erreicht, an der Deutschland zur Kriegspartei wird?

Das Völkerrecht ist bei dieser Frage klar: Kriegspartei wären wir dann, wenn wir mit deutschen Soldaten unmittelbar in die Kampfhandlungen eingreifen würden. Die Lieferung von Waffen und anderem Material aber bleibt unterhalb dieser Schwelle, egal ob wir Helme oder Panzer liefern. Also: Nur weil wir Kampfpanzer liefern, werden wir noch keine Kriegspartei.

Die Bundeswehr hat Anfang der Woche ein Flugabwehrsystem Patriot in Polen stationiert. Gesetzt den Fall, deutsche Soldaten an diesem System schiessen ein russisches Kampfflugzeug oder einen Marschflugkörper auf ukrainischem Gebiet ab, würde dies eine Kriegsbeteiligung darstellen?

Dann würden wir unmittelbar mit eigenen Streitkräften in die Kampfhandlungen eingreifen und damit als Kriegspartei agieren, unabhängig davon, ob das von ukrainischem, polnischem oder deutschem Gebiet aus erfolgt.

Militärfachleute berichten, dass die amerikanischen Raketenartilleriesysteme Himars in der Ukraine von ehemaligen US-Soldaten in Zivil, sogenannten Contractors, bedient werden. Inwiefern stellt dies eine Kriegsbeteiligung dar?

Diese Leute gehören nicht den US-Streitkräften an und sind auch nicht in die ukrainischen Streitkräfte eingegliedert, wie es bei den Wagner-Söldnern auf russischer Seite der Fall ist. Es handelt sich um private Akteure, deren Verhalten den USA nicht zuzurechnen ist.

Ist das nicht Haarspalterei? Es ist doch egal, ob ein Amerikaner mit oder ohne Uniform gefeuert hat.

Zugegeben, es ist vielleicht eine feine Unterscheidung, die nicht unmittelbar einleuchten mag. Aber die Frage ist, wer letztlich der Verantwortliche ist, welcher Staat das Ganze steuert, und das bleibt bei privaten Akteuren der ukrainische Staat.

Ob Russland diese Unterscheidung auch macht?

Diese feingesponnenen Fragen werden im Kreml möglicherweise nicht gestellt. Die Frage, wann Moskau gegen einen Staat vorgeht, der die Ukraine militärisch unterstützt, wird von den Kreml-Herren vermutlich völlig losgelöst vom Völkerrecht und seinen Grenzziehungen getroffen. Das können wir aber nicht beeinflussen, es sei denn, wir liessen uns vorauseilend auf die Logik des Kremls ein.

Der Völkerrechtler Matthias Herdegen lehrt an der Universität Bonn.

Der Völkerrechtler Matthias Herdegen lehrt an der Universität Bonn.

DPA

Worin bestand die ursprüngliche Absicht des Kriegsvölkerrechts?

Es beschreibt die Regeln für den Fall, dass sich zwei Staaten im Krieg befinden, losgelöst von Angriff und Verteidigung. Nennen wir es den Versuch, ein Mindestmass an Humanität in ein grauenhaftes Geschehen zu bringen. Deshalb sprechen wir auch vom humanitären Völkerrecht. Die ursprüngliche Motivation beruhte auf dem Gedanken der Gegenseitigkeit: Wir mässigen uns im Einsatz der Mittel, behandeln etwa Kriegsgefangene mit Menschlichkeit, in der Erwartung, dass die Gegenseite das auch tut. Vor allem ist die Zivilbevölkerung möglichst zu schonen und darf nicht direkt angegriffen werden. Heute gelten diese beiden Pflichten selbst dann, wenn sich eine Seite nicht daran hält.

Haben Sie den Eindruck, dass sich beide Seiten daran noch halten?

Russland hat jede Bindung an das Völkerrecht und jede Beschränkung durch humanitäre Regelungen aufgekündigt. Das wird durch das völlig rücksichtslose Vorgehen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung deutlich. Bei der Ukraine ist mein Eindruck, dass die Verhaltensregeln für den Krieg eingehalten werden. Offensichtlich haben wir eine massive Asymmetrie bei der Einhaltung des Kriegsvölkerrechts

Gab es früher nicht eine deutlichere Unterscheidung: Entweder Kriegspartei oder nicht und wenn nein, dann dürfen auch keine Waffen geliefert werden?

Das stimmt in historischer Perspektive, und wir Völkerrechtler haben erst jetzt wieder darüber im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg verschärft diskutiert. Es gibt aus dem 19. Jahrhundert die Neutralitätsregeln, wonach ein Staat, der nicht Kriegspartei ist, keine der beiden Seiten unterstützen darf. Das war eine strenge Neutralitätspflicht, mit der die Lieferung von Waffen nicht vereinbar ist. Dieses Neutralitätsrecht musste nach 1945 an das System der kollektiven Sicherheit der Vereinten Nationen angepasst werden. Dieses System ächtet den Angreifer. Gleichzeitig stellt es dem Angegriffenen in Aussicht, dass ihn der Uno-Sicherheitsrat schützt und andere Staaten ermächtigt, in diesen Konflikt einzugreifen, oder sogar mit eigenen Uno-Kräften für Befriedung sorgt.

Nun sitzt aber der Aggressor selbst im Uno-Sicherheitsrat. Damit kommt das System der kollektiven Sicherheit an seine Grenzen.

Der Sicherheitsrat ist wegen des russischen Vetos handlungsunfähig. Der Ukraine bleibt die eigene Selbstverteidigung mit militärischen Lieferungen von aussen oder aber die kollektive Selbstverteidigung unter Kriegsbeteiligung anderer Staaten. Nach geltendem Völkerrecht könnten die europäischen Staaten, die USA oder andere Länder durch einen Kriegseintritt kollektive Selbstverteidigung für die Ukraine leisten. Das dürften sie, weil man einem angegriffenen Staat mit allen Mitteln helfen darf, solange der Uno-Sicherheitsrat nicht tätig wird. In diesem Sinne sind unsere Waffenlieferungen also noch unterschwellig und schöpfen die völkerrechtlichen Optionen bei weitem nicht aus.

Die deutsche Regierung ist seit Monaten sehr zögerlich, wenn es darum geht, Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern. Inwiefern können Sie das nachvollziehen?

Die Regierung bewegt sich in einem Korridor zwischen völkerrechtlichen Bindungen und politischer Opportunität. Sie weiss, dass Deutschland nicht zur Kriegspartei wird, wenn sie Waffen liefert. Ihr Zögern ist eher der Sorge geschuldet, dass Russland die Lieferung bestimmter Waffen zum Anlass nehmen könnte, den Krieg auszuweiten. Nur wird Russland kaum zu Gesprächen bereit sein, wenn es nicht gelingt, den Preis des Krieges für Moskau so hochzutreiben, dass sich Putin lieber an den Verhandlungstisch setzt. Das kann nur gelingen, wenn die Ukraine alles Material hat, um sich erfolgreich zu verteidigen.

Was befürchten Sie für die Zukunft des Völkerrechts, wenn Russland die Ukraine erobern sollte?

Die europäische Nachkriegsordnung ist schon jetzt auf eine für uns unvorstellbare Weise erschüttert. Selbst im Kalten Krieg konnten wir darauf vertrauen, dass eine stabile territoriale Ordnung herrscht. Das ist vorbei. Mit seinem Krieg hat Russland die völkerrechtlichen Regeln unterminiert und praktiziert das Recht des Stärkeren. Hier wird das Völkerrecht als Grundlage der internationalen Beziehungen infrage gestellt. Damit steht das Selbstverständnis der westlichen Gemeinschaft auf dem Spiel: Wenn wir die internationale Ordnung als eine normative Ordnung erhalten wollten, müssen wir verhindern, dass die Ukraine von Russland besetzt wird.

Wie verhält sich das Völkerrecht zu Verhandlungen mit jemandem, der es mit Füssen tritt, so wie es Putin tut?

Es darf keinen Diktatfrieden geben. Wir unterstützen die Ukrainer auch deshalb, damit Russland ihnen nicht seine Bedingungen aufzwingen kann.

Gefragter Rechtswissenschafter

Matthias Herdegen, 65, ist Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Direktor des Instituts für Völkerrecht der Universität Bonn. Er fungiert als geschäftsführender Herausgeber und Mitautor des als Standardwerk geltenden Kommentars zum Grundgesetz Dürig/Herzog/Scholz. Mehrfach vertrat er die Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof und die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht.