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Rassemblement National

„Bei ihr hängt alles zusammen: Macron, Deutschland und Europa“

Ein Gespräch mit Landry Charrier

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31. Januar 2024

Der rechtsextreme Rassemblement National legt seit Jahren in den Umfragen zu und ist inzwischen auf kommunaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene stark vertreten. Bei der Europawahl im Juni könnte sich die Partei von Marine Le Pen als klarer Sieger durchsetzen. Wir haben mit Landry Charrier, dem Redaktionsleiter von dokdoc, darüber gesprochen, und ihn gefragt, warum Deutschland in der Parteirhetorik einen wichtigen Platz einnimmt.

dokdoc: Es kommt selten vor, dass der Redaktionsleiter den Wunsch äußert, in der eigenen Zeitschrift das Wort zu ergreifen. Was bewegt Sie?

Landry Charrier: In wenigen Monaten findet die Europawahl statt und wir haben nicht mal angefangen über das zu sprechen, was wirklich auf dem Spiel steht. In Frankreich, wo sich Politik an erster Stelle um starke Persönlichkeiten dreht, ist es Marine Le Pen gelungen, die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und aus dieser Wahl ein Referendum gegen Emmanuel Macron zu machen. Der 9. Juni, das wiederholt sie bei jeder Gelegenheit, sei aber nur eine erste Etappe auf dem Weg in den Elysée-Palast. Und mittlerweile glauben immer mehr Leute daran.

dokdoc: Sie wollen sagen, dass viele in Frankreich sich schon damit abgefunden haben, dass der Rassemblement National (RN) 2027 an die Macht kommen wird?

Landry Charrier: Das geht aus vielen Gesprächen hervor, die ich dazu geführt habe, in Paris und im Rest Frankreichs. Auch an der Universität scheint sich ein gewisser Fatalismus breit gemacht zu haben. „Sie soll es machen“, sagte mir neulich ein Kollege, als ich ihm die Frage zu 2027 stellte. Ich war fassungslos und musste dabei an Marc Bloch denken, an sein Buch, Die seltsame Niederlage (1940), und an die Kritik, die er geäußert hatte, gegen die Intellektuellen und sich selbst: Auch sie seien verantwortlich für das Desaster gewesen, das Frankreich im Krieg gegen Hitler erlebt hatte. Will sagen, auf heute übertragen: Auch wir tragen eine große Verantwortung für das, was kommen könnte. Wir dürfen uns nicht einlullen lassen und in die Falle tappen, die die Extremisten uns stellen. Wir müssen Position beziehen, streiten, entlarven, überzeugen.

dokdoc: In aktuellen Umfragen zur Europawahl liegt der RN mit 31 % der Stimmen weit vor Renaissance, der Partei von Emmanuel Macron. Wie erklären Sie diesen Höhenflug?

Landry Charrier: Es sind zunächst einmal Außenfaktoren zu nennen, im Grunde genommen dieselben, die überall in Europa am Werk sind: Krisen, gesellschaftliche Umbrüche, Migration, Zukunftsängste. Dem RN ist es zudem gelungen, sich schrittweise als „normale“ politische Kraft zu etablieren. Als Marine Le Pen 2011 die Zügel der Partei in die Hand nahm, leitete sie einen Normalisierungsprozess ein, der seine Wirkung peu à peu entfaltete und bei den Parlamentswahlen 2022 mit der Wahl von 89 Abgeordneten einen ersten Höhepunkt erreichte.

Neujahrswünsche an die Presse, Jordan Bardella und Marine Le Pen, 25.01.2024 (Copyright Imago)

Ein weiterer Aspekt scheint mir von Bedeutung zu sein: Le Pen hat sehr früh angekündigt, dass sie im Falle eines Sieges 2027 den Vorsitzenden der Partei, Jordan Bardella, zum Premierminister ernennen würde. Somit will sie den Franzosen eine Perspektive geben, eine Art Anker in unsicheren Zeiten – das ist geschickt und scheint bei vielen anzukommen. Die anderen Parteien sind noch nicht soweit: Emmanuel Macron wird nicht wieder antreten können. Édouard Philippe hat Interesse bekundet, hält sich aber aus guten Gründen noch bedeckt. Jean-Luc Mélenchon wird aus Altersgründen wegfallen und die Républicains sind dermaßen zerstritten, dass es sie zu dem Zeitpunkt als Partei vielleicht nicht mehr geben wird.

dokdoc: Lassen Sie uns auf die Europawahl zurückkommen. Welche Akzente wird der RN aus Ihrer Sicht im Wahlkampf setzen?

Landry Charrier: Der RN hat sein Programm noch nicht vorgelegt, aber es ist klar, dass er die Wahl als Kampf der Souveränitäten stilisieren wird: Auf der einen Seite die von Emmanuel Macron geforderte Europäische Souveränität, auf der anderen die vom RN gepredigte Rückkehr zur Nation. Dass Macron von Tag eins seiner Präsidentschaft an auf die EU-Karte setzte, war ein „Glücksfall“ für Le Pen: Somit konnte sie bei ihren Angriffen auf die verhasste EU zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen. So gesehen wird es Le Pen und Bardella leichtfallen, eine Niederlage von Renaissance als Scheitern des Präsidenten zu verkaufen. Der Druck auf die Regierung dürfte dann größer werden, der Ruf nach einer Auflösung der Assemblée Nationale noch stärker.

dokdoc: Vor wenigen Tagen hat Alice Weidel von der AfD mit ihrer Forderung nach einem Dexit für große Aufregung gesorgt. Gert Wilders, der im November die Parlamentswahlen in den Niederlanden gewonnen hat, kämpft seit langem für einen Austritt aus der EU, also für einen Nexit. Welche Rolle wird Ihrer Meinung nach das Thema Frexit im Wahlkampf spielen?

Landry Charrier:  Keine, zumindest in öffentlichen Stellungnahmen. Marine Le Pen betont seit 2017, dass der Austritt aus dem Euro und der Frexit für sie nun vom Tisch sind. Sie wolle nunmehr die EU „grundlegend verändern“ und „eine europäische Vereinigung von Nationen schaffen.“ Wie diese europäische Vereinigung am Ende aussehen würde, weiß aber kein Mensch. Was wir aber wissen: Der Konflikt mit Brüssel wäre vorprogrammiert. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Frexit wird heute nur noch von wenigen, eher unbedeutenden Politikern explizit gefordert: Florian Philippot, Philippe Asselineau und – wenn es ihm gerade passt – Nicolas Dupont-Aignan.

dokdoc: Im Diskurs des RN spielen antideutsche Ressentiments seit jeher eine zentrale Rolle. Warum ist das so?

Landry Charrier: Extremisten brauchen Sündenböcke und Deutschland eignet sich aus historischen Gründen hervorragend dazu. Das Phänomen ist nicht neu. In den 2010er Jahren bekam es aber neuen Aufwind – vor allem im Kontext der Flüchtlingskrise. Dass Angela Merkel aus den uns allen bekannten Gründen beschloss, die Schleusen zu öffnen, und dann auf eine europäische Lösung pochte, war Wasser auf die Mühlen des RN. Das Narrativ, das Marine Le Pen im Zuge dessen verbreitete, war relativ einfach: Deutschland wolle wieder einmal dem Rest des Kontinents seine Politik diktieren; Frankreich müsse sich diesem „Diktat“ widersetzen und wieder Akteur der eigenen Geschichte werden. Ihre Rede im Europaparlament am 7.10.2015 – sie schmähte François Hollande als „Vize-Kanzler“ von Bundeskanzlerin Merkel – ist vielen in Erinnerung geblieben.   

 dokdoc: …und das kommt bei zumindest Teilen der Bevölkerung gut an?

Landry Charrier: Ja, weil das Bild eines egoistischen Deutschlands, das Europa seine Politik aufdrücken will, in Frankreich weit verbreitet ist: bei den Rechts- und Linksextremisten, aber auch bei den anderen. Ich erinnere an der Stelle an den Sozialisten Arnaud Montebourg, der in der Griechenlandschuldenkrise nicht müde wurde, das Bild der Pickelhaube zu bemühen, oder an die Reaktionen, die die Zeitenwende nach dem Angriff auf die Ukraine und die 100 Milliarden für die Bundeswehr bei einigen Konservativen auslösten. 

dokdoc: Bei den Sozialisten oder den Konservativen scheint es sich um punktuelle Reaktionen zu handeln. Bei den Rechts- und Linksextremisten sind die Angriffe auf Deutschland fester Bestandteil der Parteirhetorik.

Landry Charrier: Sie haben recht. Bei den Rechts- und Linksextremisten werden diese Argumente systematisch bemüht, wenn die Situation es „erfordert“:  bei schwierigen Reformen, in Krisenzeiten und wenn die Machtverhältnisse in der EU sich verschieben oder einer Neujustierung bedürfen. Sie werden auch bei großen Wahlen herangezogen. Die Europawahl 2024 dürfte in dieser Hinsicht keine Ausnahme sein. Frankreich ist aber kein Einzelfall, wie wir bei den Parlamentswahlen in Polen gesehen haben. In Griechenland und Italien ist Deutschland auch längst zu einem politischen Objekt geworden, mit welchem Emotionen mobilisiert, Ängste geschürt und am Ende Wahlen gewonnen werden kann. Auch das macht den anstehenden Wahlkampf so gefährlich.  

dokdoc: Marine Le Pen hat im letzten französischen Wahlkampf verlauten lassen, dass sie im Falle eines Sieges die Kooperation mit Deutschland aufkündigen würde. Welche Auswirkungen hätte ein möglicher Wahlerfolg des RN auf die deutsch-französischen Beziehungen?

Marine Le Pen im Kreml, 24. März 2017, Copyright: Wikimedia Commons

Landry Charrier: Äußert negative. Das hat Le Pen bereits im Präsidentschaftswahlkampf 2022 sehr deutlich gemacht. Deutschland warf sie im Wahlkampf vor, für „die absolute Verneinung der französischen strategischen Identität“ zu stehen. Im Falle eines Sieges wolle sie dieser „toxischen“ Partnerschaft, wie sie diese nannte, ein Ende setzen und auf andere zugehen: Orban und – das sagt sie allerdings seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine nicht mehr offen – Putin. Bei ihr hängt alles zusammen: Macron, Deutschland und Europa. Auch ihr Feldzug gegen die Eliten reiht sich in die Logik ein: Deutsch zu sprechen, germanophil zu sein, das ist eine Sache der Eliten, nicht des Volkes. 

dokdoc: Und das bereitet Ihnen Sorgen?

Landry Charrier: Das destruktive Potential dieses Diskurses wird von vielen unterschätzt. Man gibt sich gerne der Illusion hin, die deutsch-französische Freundschaft sei ein Acquis für die Ewigkeit.

dokdoc: Sind wir machtlos? Wir haben seit Beginn unseres Interviews fast ausschließlich von der Gefahr gesprochen, die vom RN ausgeht, und nicht von dem, was unternommen werden konnte.

Landry Charrier: Machtlos sind wir nicht. Wir haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten Instrumente des Austauschs entwickelt, die sich bewährt haben und dabei helfen, den Mehrwert und die Potenziale der deutsch-französischen Zusammenarbeit greifbar zu machen. Der Deutsch-Französische Bürgerfonds ist eins davon. Wir müssen jetzt massiv in diese Instrumente investieren, auch in Zeiten knapper Ressourcen, und neue Instrumente des Austauschs auf allen möglichen Ebenen entwickeln. Die Ausweitung des Kulturpasses auf Frankreich und vielleicht auch auf Polen, wie neulich von Deutschland vorgeschlagen, ist eins davon. An Ideen fehlt es nicht. Es braucht „nur“ einen Ruck. 

dokdoc: Landry Charrier, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Die Fragen stellte Tanja Herrmann

Copyright: Landry Charrier

Unser Gast

Landry Charrier ist Mitglied der CNRS-Forschungseinheit SIRICE (Sorbonne, Paris), Associate Fellow am Global Governance Institute (Brüssel) sowie am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn). Seine Schwerpunkte sind die deutsch-französischen Beziehungen im globalen Kontext sowie Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik. Er ist zudem Ko-Produzent des Frankreich-Podcasts Franko-viel und seit März 2023 Redaktionsleiter der Zeitschrift Dokumente.

Mehr zum Thema

Landry Charrier: „Was ein Rechtsruck in Frankreich für Deutschland und die EU bedeutet“. FOCUS Online (20. Februar 2024), https://www.focus.de/experts/europawahl-was-ein-rechtsruck-in-frankreich-fuer-deutschland-und-die-eu-bedeutet_id_259684353.html.

Dialog Dialogue

2 Kommentare/Commentaires

  1. Die Vision eines Trump Erfolgs ist ein wake up call – aber ein Erfolg von Le Pen wäre noch viel schlimmer
    Alles schaut derzeit über den Atlantik und fragt sich , wie die Wahlen in den USA ausgehen werden. Ein möglicher Erfolg von Donald Trump löst schon jetzt Schüttelfrost aus. Aber auch eine Debatte über die Frage, was die Europäer in Zukunft besser selber bewerkstelligen müssen, und wie. Zur Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen ein imperialistisches ausgreifen Russlands, zur Wahrung der eigenen Sicherheit etc.
    Dabei werden alle Facetten betrachtet: der politische Wille zu mehr europäischer Einigkeit und Handlungsfähigkeit bzw. der Mangel daran. Die Notwendigkeit, dass Europa mehr für die eigene Verteidigung investieren muss, die Rüstungspolitik besser koordiniert ( und dabei nicht in alte industriepolitische Querelen verfällt). Und sogar die Frage nach europäischen nuklearen Streitkräften bzw. die eventuelle Europäisierung der französischen und britischen Nuklearstreitkräfte wird offen thematisiert . Immerhin hat die EU eine eigene Sicherheitsgarantie , die im Wording noch stärker als der Artikel V des NATO Vertrags ausfällt.
    All das ist auf dem Tisch und sollte unabhängig vom Wahlausgang in Amerika weiter vorangetrieben werden, denn die USA werden sich zukünftig stärker auf Asien fokussieren.
    All das setzt aber auch voraus, dass es in der EU weiter einen gemeinsamen Willen gibt. Nach dem Brexit kamen die größten Risiken dafür aus Polen ( da hat die Wahl von MP tusk Hoffnung gegeben) und Ungarn. Jetzt sind die potentiellen Zweifel mit den Namen Meloni und evtl Wilders verbunden. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ist eine Stärkung der Rechten und europaskeptischen Parteien zu befürchten.
    Aber die größte Gefahr für unseren europäischen Zusammenhalt könnten wir durch einen evtl Wahlsieg von Marine Le Pen erleben. Sie spricht sich zwar nicht mehr für einen Frexit aus, aber würde die EU stark zurückfahren und begrenzen wollen.
    Und nicht zuletzt würde sie den deutsch französischen Motor, der im Moment eh etwas stottert, in Frage stellen. ihre Haltung zu der DEU FRA Partnerschaft und zu Deutschland selbst ist bestenfalls als skeptisch zu bezeichnen.
    Bei einer Präsidentin Le Pen kann man die Hoffnungen auf eine Verwirklichung der europäischen Kooperation auch in der Verteidigung getrost ad Acta legen. Insofern haben wir alles Interesse , dass in Paris ein Präsident/ eine Präsidentin aus der demokratischen Mitte regiert. Bisher haben deutsche Reaktionen auf Vorschläge von Präsident Macron nicht gezeigt, dass Deutschland den Ernst dieser mgl Entwicklung schon voll realisiert hat. Das ständige Zögern bei deutschen Antworten auf Vorschläge aus Paris folgt alten , Mittlerweile aber ausgedienten reaktionsmustern. Dabei darf es nicht bleiben
    Die Zukunft der EU und damit unsere eigene ist engstens mit dieser Frage verbunden.
    Es wird Zeit , dass wir dementsprechend handeln . Das ständige schielen auf Uncle Joe ( Ukraine) ist aktuell leider nachvollziehbar, aber unser eigentliches Risiko liegt in unserem europäischen Zusammenhalt und dabei ganz besonders in der Fähigkeit unserer beiden Ländern zum Wohle Europas an einem Strang zu ziehen.

  2. Nach wie vor verstehe ich nicht, wieso in Zeiten der Krisen und Veränderungen ein „Nationalsimus“ das Allheilmittel ist. Mir schaudert es, wenn die Rechten in Europa das Sagen haben……no pasaran

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