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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published online by De Gruyter March 23, 2024

Die sicherheitspolitische Bedeutung von Weltraum und NewSpace im Ukraine-Krieg – politische Implikationen für die militärische und kommerzielle Raumfahrtnutzung

  • Antje Nötzold ORCID logo EMAIL logo

Zusammenfassung

Der aktuelle Krieg in der Ukraine zeigt die neue, erweiterte Bedeutung des Weltraums, insbesondere kommerzieller Weltraumsysteme in Konflikten und Kriegen. Mit der vielfältigen und umfassenden Nutzung weltraumgestützter kommerzieller Systeme und Dienstleistungen hat sich die NewSpace-Industrie aktiv an der Verteidigung der Ukraine beteiligt und eine neue Dimension des Weltraums in der Kriegführung aufgezeigt. Der Artikel stellt zunächst die strategische Bedeutung des Weltraums für das Militär, die Verwundbarkeit von Weltraumkapazitäten und die Herausforderungen für deren Schutz dar. Anschließend werden die Auswirkungen weltraumbezogener Vorfälle zu Beginn des Ukraine-Kriegs dargelegt und die entscheidende Rolle von Weltraumkapazitäten in der Kriegführung der Ukraine hervorgehoben. Der Artikel verdeutlicht zum einen die Bedeutung des Weltraums, indem er die Verwicklung nichtstaatlicher Akteure der NewSpace-Industrie in diesen Krieg aufzeigt und Schlussfolgerungen für die zukünftige Rolle des Weltraums und kommerzieller Weltraumakteure in Konflikten und Kriegen zieht. Zum anderen leuchtet er die Konsequenzen, notwendigen Anpassungen und den politischen Handlungs- und Regelungsbedarf in Bezug auf drei Aspekte aus: 1) Militär und Kriegführung, 2) das Verhältnis zwischen Staaten und kommerziellen Akteuren der NewSpace-Industrie sowie 3) die Weltraumpolitik Europas.

Abstract

Space has assumed on a new, expanded dimension in conflict and warfare, as exemplified by the ongoing war in Ukraine. With the diverse and extensive use of space-based commercial systems and services, the NewSpace industry has been actively involved in the support and defense of Ukraine, signifying another new dimension of space in crisis and warfare. The article introduces first the importance of the strategic space sphere for the military, along with the vulnerabilities of space capabilities, and challenges for protection. Subsequently, the article discusses the impact of space-related incidents in the war in Ukraine from the very beginning and emphasizes the crucial role of space capabilities in the current stage of the war. On the one hand, the paper will demonstrate the significance of space. It shows the involvement of non-state actors of the NewSpace industry in the war in Ukraine and examines the conclusions that can be drawn so far for the future role of space and commercial space actors in conflict and war. On the other hand, it exposes the resulting consequences, necessary adaptations, and requirements for political regulation regarding three aspects 1) the space sector (especially in Europe), 2) military and warfare, and 3) the relationship between states and commercial entities of NewSpace.

1 Einleitung – die militärische Dimension von Weltraumkapazitäten

Der Weltraum als vierte Domäne nach Land, Meer und Luft gewinnt neben seiner rasch wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung auch für militärische und strategische Zwecke zunehmend an Bedeutung. Jede souveräne Nation ist auf Kommunikationsmöglichkeiten angewiesen, nicht nur für Wirtschaft und Zivilgesellschaft, sondern auch für Regierungsbehörden und Militär. Dabei geht es um Zugang zu sicheren Kommunikationskanälen, Satellitendiensten und Fernerkundungsdaten für zivile und militärische Aktivitäten und damit sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten. Wegen seiner essenziellen Tragweite gilt der Weltraum als kritische Infrastruktur.[1] Weltraumgestützte Fähigkeiten bilden die Grundlage für Einsatzplanung und –durchführung. Sie liefern militärisch wichtige Daten, Produkte und Dienste (DPS) unter anderem für Positionierung, Navigation und Zeitbestimmung (Positioning, Navigation and Timing – PNT), Frühwarnung und Bedrohungsbewertung, Erdbeobachtung, SATCOM, Nachrichtengewinnung, Überwachung und Aufklärung (Intelligence, Surveillance and Reconnaissance – ISR) sowie Weltraumüberwachung (Space Surveillance and Tracking – SST).[2] Doch Satelliten sind fragile Strukturen mit erheblichen Schwachstellen.[3] Weil schwer zu verbergen und aufgrund ihrer Leichtbauweise nur schlecht gegen Angriffe geschützt, stellen sie relativ leichte Ziele dar.[4] „[S]o the ‚ultimate high ground‘ giving the best available observation and firing position against space and surface objects is, at the same time, the ‚ultimate exposure‘ to observation and attack from Earth or space.“[5]

Die Großmächte der Erde streben daher danach, auch Weltraumgroßmächte zu sein, die Macht im und durch den Weltraum ausüben.[6] Die Folge ist eine „Versicherheitlichung“ (Securitization) des Weltraums mit Blick auf geopolitische Rivalitäten, den neuen Systemkonflikt im 21. Jahrhundert und die damit einhergehende internationale Besorgnis über eine Militarisierung des Weltraums. Militarisierung meint die zunehmende Nutzung des extraterrestrischen Bereichs für militärische Zwecke. Dabei ist von zwei unterschiedlichen, aber eng verflochtenen Dimensionen auszugehen: (1) Operationen, bei denen Weltraumsysteme (etwa Satelliten) eingesetzt werden, um Kampfhandlungen zu Boden, auf See oder in der Luft zu unterstützen und (2) Einsatz und gezielte Bekämpfung von Weltraumsystemen von der Erde aus oder im Weltraum.[7] Strategisch wird der Weltraum daher nicht mehr nur mit Blick auf seine militärische Unterstützungsfunktion betrachtet, sondern auch als potenzieller Raum der Kriegführung. Kriege der Zukunft werden somit nicht mehr nur durch den Weltraum, sondern auch im Weltraum ausgetragen.

Die zunehmende Nutzung des Weltraums für wirtschaftliche und tagtägliche Zwecke sowie die wachsende Abhängigkeit für die nationale Sicherheit hat viele Nationen veranlasst, Fähigkeiten zur Weltraumverteidigung aufzubauen. Diese sollen es ermöglichen, Objekte anderer Mächte im Weltraum zu täuschen, zu stören, zu beeinträchtigen oder zu zerstören bzw. eigene Objekte vor entsprechenden Aktivitäten anderer zu schützen. Diese Counterspace Measures umfassen Maßnahmen defensiver wie offensiver Art. Sie können unterschiedlicher Art sein, angefangen von Nuklearexplosionen im Weltraum bis hin zu elektromagnetischen Störungen.[8] Das Space Threat Assessment, veröffentlicht vom Aerospace Security Project des Center for Strategic and International Studies (CSIS), identifiziert vier Kategorien von Counterspace Weapons im Weltraum: kinetisch physische, nicht-kinetisch physische, elektronische und Cyberwaffen.[9] Die Secure World Foundation untersucht die fortschreitende globale Entwicklung und Verbreitung von Counterspace Capabilities, eingeteilt in die fünf Kategorien co-orbital, direct-ascent, electronic warfare, directed energy und cyber.[10]

Kinetische Antisatellitenwaffen (ASAT) können auf zwei Arten einsetzen werden: von der Erde aus abgefeuerte Antisatellitenraketen oder ko-orbitale Satellitenwaffen, als combat satellites oder space mines bezeichnet, die absichtliche Kollisionen oder Sabotageakte verursachen, um Satelliten im Orbit physisch zu zerstören.[11] Counterspace Capabilities können Satelliten ferner (vorübergehend) durch Laser, elektronische Aktivitäten (wie Jamming oder Spoofing) oder Cyberangriffe stören bzw. temporär oder dauerhaft außer Betrieb setzen. Problematisch ist, dass sich Laser und elektronische Aktivitäten ebenso wie Kapazitäten für Präzisionsmanöver, Rendezvous- und Annäherungsoperationen (Rendevouz and Proximity Operations – RPO genannt) sowohl zu friedlichen Zwecken einsetzen lassen, so u. a. zur Beseitigung von Weltraummüll oder Wartung von Satelliten, als auch zur Beschädigung oder Zerstörung fremder Satelliten.[12]

Aufgrund des Dual-use-Charakters von Weltraumtechnologien und -anwendungen ist es generell schwierig, zwischen Counterspace Capabilities und Counterspace Weapons zu differenzieren. Alle manövrierfähigen beweglichen Objekte im Weltraum sind potenzielle Instrumente für Spionage und Sabotage und als bewegliche Waffen gegen Ziele im Weltraum einsetzbar. Eine Klassifizierung von Weltraumwaffen ist daher schwierig und mehrdeutig. Was eine Bedrohung aus dem Weltraum darstellt, kann nicht durch die isolierte Betrachtung von Weltraumobjekten, Technologien oder Weltraumkapazitäten ermittelt werden, sondern muss auch das Verhalten der Objekte und der beteiligten Nationen berücksichtigen.[13] Meistens wird der Begriff Weltraumwaffe daher sehr allgemein definiert als jedes System, das dazu bestimmt ist, Objekte im oder aus dem Weltraum zu zerstören oder zu beschädigen.[14] Damit umfasst er sowohl Systeme und Fähigkeiten, die sich im Weltraum befinden oder im Weltraum auf Weltraumobjekte wirken, als auch Waffen, die vom Weltraum aus oder durch den Weltraum gegen Ziele auf der Erde eingesetzt werden.[15] Der Begriff der Weltraumkriegführung (space warfare) bezieht sich dagegen nur auf Waffen, die im Weltraum wirken, und umfasst jede Art von Kampfhandlungen im Weltraum.[16]

Laut der Analyse globaler Counterspace Capabilities der nichtstaatlichen Secure World Foundation werden verschiedene destruktive und nicht-destruktive Counterspace Capabilities in Ländern der westlichen Bündnisse ebenso wie in rivalisierenden gegnerischen Staaten erforscht und entwickelt. Vor allem die USA, Russland und China verfügen über ein breites Spektrum an Counterspace Capabilities. Aber auch Verbündete und Gegner wie der Iran und Nordkorea entwickeln Fertigkeiten, um im Konfliktfall einem potenziellen Gegner den Zugang zu ihren weltraumgestützten Fähigkeiten zu verwehren und ein gewisses Maß an Abschreckung im Weltraumbereich zu gewährleisten.[17] Dabei sind nicht-destruktive, leicht auszuführende und schwer einem Angreifer zuzuordnende Counterspace-Aktivitäten inzwischen zahlreich.[18] Bereits heute ist die absichtliche weltraumgestützte Störung, sogenanntes Jamming, militärisch weit verbreitet und gelten Cyberangriffe und elektronische Kriegführung gegen Weltraumsysteme sowie Spionage im Orbit im Fall von Konflikten als geläufig.[19] Destruktive physische Counterspace Capabilities wurden dagegen bisher noch nie aktiv in militärischen Operationen eingesetzt,[20] auch nicht im Ukraine-Krieg.

2 Die Rolle von Tech-Konzernen und weltraumgestützten Systemen nach Russlands Angriff auf die Ukraine

Während der Golfkrieg von 1991 als first space war gilt, wird der Krieg in der Ukraine als first two-sided space war bezeichnet,[21] da der Weltraum sowohl auf Seite des Angriffs als auch auf Seite der Verteidigung ein Schlüsselelement ist.[22] Russlands Angriff auf die Ukraine begann im Weltraum mit einem Vorfall, der sich nur eine Stunde vor Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 ereignete: Ein mutmaßlich russischer Cyberangriff mittels einer Schadsoftware führte zum Ausfall des von ViaSat betriebenen Satellitennetzwerks KA-SAT, das Breitband-Internet bereitstellt. Tausende von deaktivierten Endgeräten konnten keine Verbindung zum Netz herstellen, was europaweit zu Internet- und Telefonausfällen führte.[23] Bei französischen und britischen Satelliten-Breitbandanbietern wurde die von ViaSat bereitgestellte Internetverbindung unterbrochen, wovon fast 50.000 Abonnenten in Frankreich, Deutschland, Ungarn, Griechenland, Italien und Polen betroffen waren. Der deutsche Windturbinenhersteller Enercon verlor den Zugang zur Fernüberwachung und -steuerung von rund 5.800 Turbinen mit einer Gesamtkapazität von 11 GW. Vor allem aber war der Cyberangriff auf die KA-SAT-Infrastruktur von ViaSat Teil der frühen Phase der russischen Kriegsstrategie.[24] Zu den Kunden der deaktivierten Dienste gehörten Armee, Regierung und Sicherheitsdienste der Ukraine sowie andere staatliche Stellen.[25] Victor Zhora vom Staatlichen Dienst für Sonderkommunikation und Informationsschutz in der Ukraine (State Service for Special Communications and Information Protection in Ukraine – SSSCIP) sprach zunächst von einem „enormen Kommunikationsverlust“ für die Armee, behauptete jedoch später, der Satelliten-Hack hätte sich auf die militärischen Operationen kaum ausgewirkt, da die Armee über alternative Kommunikationskanäle verfügte.[26] Gleichwohl stellt dies den bedeutendsten öffentlich bekannt gewordenen Angriff auf ein Weltraumsystem in der jüngeren Geschichte dar sowie den ersten Fall eines Cyberangriffs, der als digitaler Erstschlag in einem militärischen Konflikt dient.[27]

Infolge dieses Cyberangriffs erhielt der Ukraine-Krieg einen zweiten weltraumbezogenen Aspekt, der weitreichende Auswirkungen auf den Konfliktverlauf hatte und den Einfluss nichtstaatlicher Weltraumakteure in bewaffneten Konflikten erheblich verstärkte. Russlands Cyberangriff und Bombardierungen sollten das Internet in der Ukraine zum Erliegen bringen, um die Kommunikation der ukrainischen Regierung und des Militärs zu unterbinden, erfordert die für moderne Kriegsführung entscheidende digitale Kommunikation doch schnelles und sicheres Internet.[28] In einem unkonventionellen Schritt appellierte der ukrainische Vizepräsident und Minister für digitale Information Mykhailo Fedorov via Twitter an Elon Musk, der Ukraine das Satellitennetzwerk von Starlink zur Verfügung zu stellen. Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn, am 28. Februar 2022, trafen die ersten Starlink[29]-Terminals in der Ukraine ein. Innerhalb kurzer Zeit wurden 5.000 Terminals im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft zwischen USAID (1.333) und Space X (3.667) bereitgestellt.[30] Knapp anderthalb Jahre später – Ende Juli 2023 – ermöglichen inzwischen mehr als 42.000 (auch von europäischen Verbündeten bereitgestellte) Starlink-Terminals Regierung, Militär, Krankenhäusern, Unternehmen und Zivilbevölkerung in der Ukraine unbegrenzte, ungedrosselte Datenverbindungen und Kommunikation.[31] Starlink wurde so schon in den ersten Kriegstagen zu einer digitalen Lebensader für die Ukraine, sowohl für Zivilisten wie für das Militär.[32] Darüber hinaus beteiligten sich auch andere große Technologieunternehmen (Amazon, Alphabet, Meta und Microsoft) maßgeblich am Schutz der digitalen Infrastruktur und Informationsressourcen der Ukraine, stärkten die Abwehr von Cyberangriffen und ermöglichten die Internetkonnektivität. Amazon stellte beispielsweise Snowball-Datentransportboxen zur Verfügung, mit denen kurz vor Kriegsbeginn 20 Petabyte an kritischen Daten, einschließlich der Daten von Katasterämtern, in die Cloud hochgeladen wurden. Microsoft überließ der Ukraine Lizenzen und Dienstleistungen, um wichtige Softwaredienste in die Cloud zu verlagern, und Google errichtete einen Schutzschirm, um Denial-of-Service-Angriffe von Bankenwebsites abzuwehren und die Kontinuität der Dienste zu gewährleisten.[33]

Garso und Furlong fassen in ihrer Studie die zahlreichen Unterstützungen für die Ukraine durch Tech-Unternehmen zusammen und resümieren, dass die globalen Technologieunternehmen in der Lage waren, schneller und agiler einzugreifen als Regierungen. Sie trugen entscheidend dazu bei, die russische Strategie der Informationskriegsführung zu stören und das Kräfteverhältnis in diesem Konflikt zu kippen. Denn Internetzugang ist heute von essenzieller Bedeutung, weil diejenige Seite, die den Zugang kontrolliert, die Konfliktdynamik verändern kann.[34] Angesichts ihrer unerwarteten, aber maßgeblichen Rolle bei der Verteidigung der Ukraine sind Technologie- und Raumfahrtunternehmen nicht nur als künftige, sondern als aktuelle geopolitische Akteure zu betrachten. Starlink hat sich für die Ukraine als äußerst effektiv erwiesen.[35] Auf taktischer Ebene sind Tausende von Starlink-Terminals, von privaten Quellen und unterstützenden Regierungen bezahlt, für Truppen und Befehlshaber von entscheidender Bedeutung, um den Kontakt aufrechtzuerhalten, um Drohnen zu steuern, die mittels Starlink russische Streitkräfte auf dem Schlachtfeld angreifen, und um eine digitale Live-Karte zur Überwachung russischer Bewegungen und zur Durchführung von Angriffen zu erhalten.[36]

3 Weitere Bedeutung kommerzieller Weltraumsysteme im Ukraine-Krieg

Außer von Starlink profitierte und profitiert die Ukraine auch umfangreich von den Möglichkeiten anderer kommerzieller Weltraumunternehmen. Dazu gehören Anbieter von Synthetic Aperture Radar Bilder (ICEYE) und Bildern optischer Satelliten (MAXAR, Planet Labs), aber auch von Standortdaten über Funkfrequenzsignale (HawkEye 360).[37] Im August 2022 erwarb die ukrainische Serhiy Prytula Charity Foundation mit gesammelten Spendengeldern den vollen Zugriff auf einen bereits in der Umlaufbahn befindlichen ICEYE’s Synthetic Aperture Radar Satelliten für die Regierung des Landes. Dies erlaubt den ukrainischen Streitkräften, hochauflösende Bilder von Sektoren des Schlachtfeldes bei Tag und bei Nacht zu bekommen – selbst bei Bewölkung.[38] Kommerzielle Dienste und Unternehmen unterstützen die ukrainischen Verteidigungs- und Militäroperationen mit hochauflösenden Bild- und Radarbildern, die halfen, militärische Aktivitäten zu kartieren und Entwicklungen vor Ort fast in Echtzeit zu dokumentieren. Sie ermöglichten auch die Überwachung des Funkfrequenzspektrums über Satelliten des US-Unternehmens HawkEye 360, um so Truppenbewegungen und GPS-Störversuche zu erkennen. Der kanadische Satellitenbetreiber MDA stellte nahezu in Echtzeit Satellitenbilder bereit, die zur Verfolgung von Truppenbewegungen genutzt wurden, und auch die Europäische Union hat klassifizierte Satellitenbilder mit der Ukraine geteilt.[39] Da seit März 2022 verschiedene Satellitenunternehmen ihre Bilder mit der Ukraine geteilt, öffentlich ins Internet gestellt und an die Medien weitergegeben haben,[40] konnte die Ukraine als ein Akteur, der nicht über souveräne Fähigkeiten im Orbit verfügt, für die Planung und Durchführung militärischer Operationen am Boden umfangreich kommerzielle Satelliten mit Dual-use-Applikationen nutzen.[41] Diese ermöglichen nicht nur der Ukraine, russische Truppenbewegungen und Aktivitäten hinter der Frontlinie wahrzunehmen, sondern liefern eine Echtzeitdokumentation des Kriegsgeschehens mittels Flotten hochleistungsfähiger Satelliten, die im Weltraum um die Erde kreisen, wie Mykhailo Fedorov, Vizepremierminister der Ukraine und Minister für digitale Transformation der Ukraine, hervorhob.[42] Auf diese Weise wurden kommerziell verfügbare weltraumbasierte Dienstleistungen zu einem signifikanten Faktor im Kriegsverlauf. Der Ukraine-Krieg könnte als erster kommerzieller Weltraumkrieg – first commercial space war – in die Geschichte eingehen, in dem kommerzielle Anbieter eine ausschlaggebende Rolle spielten. Insbesondere die westliche kommerzielle Raumfahrtindustrie war und ist wichtig im Kampf gegen die russischen Aggressoren, indem sie instrumentelle Dienste und Fähigkeiten bereitstellt, die den Widerstand der Ukraine ermöglichen.[43] Gleichwohl trugen diese Entwicklungen auch zu einer Privatisierung der Kriegführung bei. Private Unternehmen oder Einzelpersonen, darunter Elon Musk als Eigentümer von SpaceX (auf den noch näher eingegangen wird), waren indirekt an der Kriegführung beteiligt und konnten potenziell erheblichen Einfluss ausüben.[44]

Der Ukraine-Krieg verdeutlicht, dass souveräne und geschützte SATCOM-Kapazitäten für die Gewährleistung digitaler Souveränität und strategischer Autonomie unerlässlich sind und die Ukraine als Nicht-Raumfahrtland in diesem Krieg vollständig von ausländischen Weltraumressourcen abhängig ist.[45] Wie sich gezeigt hat, müssen diese aber nicht zwingend von anderen Staaten zur Verfügung gestellt werden, sondern können auch Technologieunternehmen einspringen. Der Einsatz verschiedener Weltraumsysteme in der Ukraine hat nicht nur ihre militärische Bedeutung offenbart, sondern sie haben auch eine wichtige Rolle beim Krisenmanagement übernommen.[46] Die erhöhte Verfügbarkeit von Satellitendaten und -signalen hat die Qualität von Kommunikationssystemen und militärischer Aufklärung verbessert und so die Widerstandsfähigkeit der staatlichen Systeme in der Ukraine gestärkt. Ferner haben sie neue Anwendungen mittels weltraumgestützter Daten ermöglicht, z. B. Open Source Intelligence zur Berichterstattung und Dokumentation von Schäden und Kriegsverbrechen.[47] Darüber hinaus verfügen die Medien erstmals in einem großen Konflikt über weitreichenden Zugang zu Informationen, die sonst den militärischen Geheimdiensten vorbehalten waren.[48]

 Start einer Falcon 9 Rakete der Firma Starlink, die im Juni 2021 mehrere Satelliten, darunter auch Starlink Satelliten ins All transportierte

Start einer Falcon 9 Rakete der Firma Starlink, die im Juni 2021 mehrere Satelliten, darunter auch Starlink Satelliten ins All transportierte

Der Ukraine-Krieg zeigt, dass satellitengestützte Kommunikations-, Aufklärungs- und Zielsysteme entscheidenden Einfluss auf den Verlauf von Kampfhandlungen nehmen können, dass weltraumgestützte Systeme für die Dynamik von Konflikten relevant und nicht mehr ausschließliche Domäne von Staaten sind, sondern auch von nichtstaatlichen kommerziellen Akteure bezogen werden können.[49] Die Informationsüberlegenheit der Ukraine gegenüber dem russischen Aggressor stützt sich weitgehend auf westliche Spionage- und Erdbeobachtungssatelliten, während sich für die Kommunikation – insbesondere als mobile Option in der Gegenoffensive – und die Vernetzung für die Ukraine das kommerzielle Starlink-Satellitensystem von Elon Musk als unverzichtbar erwiesen hat.[50] Die Rolle weltraumgestützter Fähigkeiten – überwiegend kommerzieller Natur – im Kriegsverlauf wird als gewichtig eingeschätzt.[51] Damit einher geht eine neue Verwundbarkeit der Weltrauminfrastruktur durch böswillige Handlungen und Bedrohungen und somit eine neuartige militärische und strategische Anfälligkeit über die Weltraumsysteme.[52]

Aus den weltraumbezogenen Aspekten des russischen Kriegs in der Ukraine zieht Burbach vier erste Lehren, wobei die ersten drei anschließend näher erörtert werden:[53]

  • Erstens hat die Ukraine, obwohl sie über keine eigenen Weltraumkapazitäten verfügt, auf dem Schlachtfeld effektiv weltraumgestützte Kommunikations- und Aufklärungs-, Überwachungs- und Aufklärungsmittel (ISR) von US-amerikanischen und europäischen kommerziellen Anbietern eingesetzt.

  • Zweitens haben sich die russischen Counterspace-Maßnahmen trotz aller Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit von kinetischen Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) auf den Cyberbereich beschränkt – was einige Erfolge erzielte und Kollateralschäden in den NATO-Ländern verursachte.

  • Drittens wird der kommerzielle Sektor in Konflikten an Bedeutung gewinnen, wobei sich die politischen Entscheidungsträger in westlichen Ländern noch nicht dazu geäußert haben, wann und wie sie bereit wären, kommerzielle Anbieter von militärisch relevanten Dienstleistungen zu schützen.

  • Viertens profitiert Russland überraschend wenig von seinen Weltraumkapazitäten, was die langfristigen Schwächen der russischen Raumfahrtindustrie widerspiegelt – Schwächen, die auf China jedoch keineswegs zutreffen.

3.1 Die Nutzung von weltraumbasierten Daten für Kämpfe am Boden

Wie bereits aufgezeigt, haben die USA, die europäischen Verbündeten und kommerzielle Unterstützer die Ukraine mit weltraumbasierten Bild- und Signaldaten versorgt. Diese Unterstützung war von entscheidender Bedeutung, da die Ukraine im Jahr 2022 über keine nationalen Weltraumkapazitäten verfügte. Neben Systemen aus staatlichen Quellen hat die Einbindung kommerzieller Weltraumsysteme von Drittanbietern die Kriegsanstrengungen des Landes wesentlich gestärkt und mutmaßlich das Gleichgewicht zu ukrainischen Gunsten verändert. Wie Thiele feststellt, spielten die Kommunikation über Starlink zusammen mit den Fähigkeiten verschiedener bildgebender Satelliten wahrscheinlich eine wichtige Rolle, die Existenz der Ukraine zu erhalten.[54] Als Reaktion auf die russische Aggression ermöglichten kommerzielle Weltraumunternehmen der Ukraine den Übergang von der terrestrischen zur weltraumgestützten Kommunikation und Kriegsführung in nur wenigen Tagen, anstatt normalerweise in Monaten bis Jahren. Der ukrainische Digitalminister Federov bestätigte in einem Interview: „Starlink is indeed the blood of our entire communication infrastructure now.“[55]

Die Echtzeit-Kommunikationsfähigkeiten der Starlink-Satelliten erweisen sich im Gefecht als ausschlaggebend, da eine schnelle Kommunikation für den militärischen Erfolg ebenso entscheidend ist wie Aufklärungsarbeit. Kommerzielle Anbieter von Satellitenbildern, darunter Maxar Technologies, BlackSky und Planet, haben die Lagebildanalyse und Überwachung verbessert. Mit Aufklärungsdrohnen können feindliche Stellungen genau geortet werden. Die jeweiligen Positionsdaten werden an ein zentrales Kontrollzentrum übermittelt und von den Starlink-Satelliten dann direkt an Artillerieraketen und Haubitzen weitergegeben, deren weit verteilte Standorte häufig verlegt werden, um Gegenfeuer zu verhindern. Mit der Nutzung von Satellitenkommunikationssystemen wie Starlink hat sich die Zeit von der Erkennung einer feindlichen Position bis zu deren Zerstörung von fast 20 Minuten auf lediglich eine Minute verkürzt. Dieser Durchbruch macht Kriegführung in Echtzeit möglich mit erheblichen Auswirkungen auf den Ausgang von Gefechten.[56]

Wie der Ukraine-Krieg demonstriert, zählt letztlich der Zugang zu den Produkten der Raumfahrt und weniger, wer die Satelliten besitzt.[57] Auch andere Staaten als die Raumfahrtnationen (und nichtstaatliche Akteure) können durch Nutzung kommerzieller Dienste für militärische Zwecke Fähigkeiten erhalten, über die sie selbst nicht verfügen. Der so mögliche Zugang zu militärisch nutzbaren weltraumgestützten Fähigkeiten für nicht raumfahrende Staaten und nichtstaatliche Akteure wird gelegentlich als „Demokratisierung“ des Weltraums bezeichnet, also als verstärkter, gleichberechtigter Zugang zu Weltraumfähigkeiten.[58] Das bedeutet jedoch nicht notwendigerweise eine schwindende Dominanz der Großmächte im Weltraum, vielmehr eröffnet diese Entwicklung auch ihnen zusätzliche strategische Möglichkeiten. Die Verteidigungskapazitäten von Staaten können somit nicht nur durch Waffenlieferungen unterstützt werden, sondern auch durch den Zugang zu kommerziellen Produkten, durch Bereitstellung benötigter Finanzmittel, Schulung in der Nutzung kommerzieller Raumfahrtanwendungen und -dienste oder gemeinsame Nutzung klassifizierter Produkte. Ein vergleichsweise günstiger und weniger sichtbarer Ansatz der Unterstützung in Konflikten und Kriegen.[59]

3.2 Russische Gegenmaßnahmen

Zwar hat es bisher keine physischen Angriffe in Form von kinetischen Anti-Satellitenwaffen (ASAT) oder ko-orbitalen Angriffen gegeben, aber kam es mehrfach zu russischen Jamming- und Cyberangriffen gegen Weltraumsysteme,[60] die sich durchaus als erfolgreich erweisen können, wie der ViaSat-Vorfall gezeigt hat. Angesichts des Spektrums an Counterspace Capabilities im Weltraum und der Gefahr, durch kinetische Angriffe erhebliche Mengen neuen Weltraumschrotts zu erzeugen und damit nicht nur die eigenen Weltraumsysteme zu gefährden, sondern in Folge von Kaskadeneffekten ganze Orbits unbrauchbar zu machen,[61] ist es wahrscheinlich, dass Cyberangriffe und elektronische Störungen auch in Zukunft die bevorzugten Methoden gegenüber physischen Angriffen auf Weltraumsysteme sein werden.[62] Vor allem können ASAT-Angriffe auf Megakonstellationen wie Starlink wenig ausrichten. Denn mehrere Tausende von vergleichsweise preiswerten, einzeln steuerbaren, kleinen und redundanten Satelliten stehen einer sehr begrenzten Anzahl von teuren (russischen) ASAT-Raketen gegenüber, die auf die Bekämpfung größerer Weltraumobjekte ausgelegt sind.[63] Dennoch sind kommerzielle Systeme hinsichtlich der bodengestützten Kontrollsysteme und Nutzerzugriffe häufig weniger sicher als staatliche Systeme und daher erheblich anfälliger für Cyberangriffe.[64]

Eine Bewertung der Nutzung von Weltraum und kommerziellen weltraumbasierten Systemen und Anwendungen für militärische Zwecke muss deswegen auch die Cyberperspektive berücksichtigen. Der Cyberangriff auf ViaSat hat gezeigt, wie wichtig und umfangreich Cybersicherheit im Weltraum ist. Raumfahrt und Cybersicherheit sind immer enger miteinander verwoben. Der Weltraum ist zunehmend in terrestrische Netze integriert und muss somit als Teil der digitalen Infrastruktur in seiner Gesamtheit gesehen werden. Da diese das Rückgrat von Wirtschaft, Gesellschaft und Militär bildet, werden Satelliten zu attraktiven Zielen für Cyberangriffe.[65]

3.3 Der Schutz militärisch relevanter kommerzieller Weltraumfähigkeiten vor staatlichen Angriffen

Die hier beschriebenen Entwicklungen haben mehrere Auswirkungen. Einerseits sind Weltraum und Cyberspace in bewaffneten Konflikten immer stärker miteinander verflochten, da beide eine entscheidende Rolle bei der Verbindung und Synchronisierung aller Systeme und Waffen auf dem Schlachtfeld bei sogenannten Multi-domain-Operationen spielen.[66] Dies erschwert eine klare Abgrenzung und Zuordnung militärischer und zivil-kommerzieller Handlungen. Das es bislang nicht einmal eine allgemeingültige Definition eines Cyberangriffs oder einer Weltraumwaffe gibt, macht es noch schwieriger, einen Cyberangriff auf ein Weltraumsystem oder eine Cyberwaffe im Weltraum begrifflich zu definieren.

Andererseits schafft der rasch expandierende kommerzielle Raumfahrtsektor – NewSpace genannt – neue Sicherheitsrisiken. NewSpace beschreibt die Kommerzialisierung der Raumfahrt und ihrer Anwendungen sowie die zunehmende Verflechtung mit der traditionellen Wirtschaft. In der Vergangenheit bestand der Raumfahrtsektor fast ausschließlich aus Rüstungsunternehmen und war stark der Geheimhaltung unterlegen. NewSpace-Unternehmen sind, weil primär wirtschaftlich ausgerichtet, in der Regel kommunikativer und offener, was bei einem bösartigen Angriff ausgenutzt werden könnte.[67] Die wachsende, nahezu explodierende Anzahl kommerzieller Satelliten an, die für die Wirtschaft und das Funktionieren kritischer Infrastrukturen strategisch immer bedeutender sind, bietet zahlreiche Schwachstellen und potenzielle Hauptziele für (Cyber-)Angriffe. Beim Schutz der Weltrauminfrastruktur muss berücksichtigt werden, dass diese aus drei Dimensionen besteht: Weltraum-, Boden- und Nutzersegment, von denen vor allem die letzten beiden und die Kommunikation zwischen den Segmenten anfällig für (Cyber-)Angriffe sind.[68]

Aufgrund ihrer (indirekten) Einbindung in die Kampfhandlungen und daher militärischen Bedeutung geraten auch kommerzielle Raumfahrtsysteme in das Visier der Gegner. Konstantin Woronzow, stellvertretender Direktor der Abteilung für Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle des russischen Außenministeriums, erklärte im Oktober 2022 vor dem Ersten Ausschuss der Generalversammlung der Vereinten Nationen, dass die Nutzung ziviler Weltrauminfrastruktur, einschließlich kommerzieller Komponenten, durch die USA und ihre Verbündeten zur Unterstützung der Ukraine „provokativ“ sei. Kommerzielle, in den Ukraine-Krieg verwickelte Satelliten könnten für Russland daher „legitime Ziele für Vergeltungsschläge“ werden.[69] Aus völkerrechtlicher Sicht kann durchaus diskutiert werden, ob Aktionen gegen militärisch genutzte zivile Raumfahrtsysteme als gerechtfertigt gelten können.[70] Auch andere Staaten wie China oder Iran haben bereits in Stellungnahmen und Militärpublikationen geäußert, dass sie Starlink wegen seiner militärisch relevanten Verwendung nicht als rein ziviles Projekt, sondern als Teil einer Militarisierung im Weltraum und damit ebenfalls als legitimes Ziel in Konflikten betrachten.[71]

 Kontrollzentrum für Raketenstarts der Firma SpaceX

Kontrollzentrum für Raketenstarts der Firma SpaceX

Kommerzielle Satellitenbetreiber, deren Bedeutung in Konflikten zunimmt, wiederum ersuchen die Regierungen um Hilfe bei der Absicherung ihrer Systeme gegen Counterspace-Aktivitäten. Führende westliche Politiker haben sich bisher bezüglich des Schutzes kommerzieller Weltraumsysteme jedoch außerordentlich zurückhaltend geäußert, was in Anbetracht der Komplexität des Themas nachvollziehbar ist. Aber diese Zurückhaltung erhöht die Wahrscheinlichkeit gegnerischer Fehleinschätzungen.[72] Angesichts der in der Ukraine vorgeführten jüngsten Fortschritte in der Kriegführung gegen konventionell überlegene Gegner werden kommerzielle Weltraumsysteme und -anwendungen vermutlich immer häufiger für militärische Zwecke eingesetzt werden, weshalb sich Staaten wie Russland oder China auf deren Bekämpfung einrichten.

4 Militärische Implikationen aus den Erfahrungen des Ukraine-Kriegs

Unter sicherheitspolitischem Blickwinkel spricht in den letzten Jahren von einem NewSpace Age gesprochen, in dem der erdnahe Weltraum immer wichtiger für Frieden und Sicherheit auf der Erde wird.[73] Infolge der dargestellten militärischen Entwicklungen wird dem Weltraum mittlerweile eine eigene militärisch-taktische Dimension zugewiesen und nicht mehr nur als Unterstützungsgebiet für militärische Operationen gewertet. Veränderungen militärischer Strukturen sowie einschlägige Dokumente und Programme machen dies deutlich.[74]

Die NATO erklärte im Jahr 2019 neben dem Luft-, Land-, See- und Cyberraum auch den Weltraum zu einem operativen Bereich. Im Oktober 2020 beschlossen die NATO-Verteidigungsminister die Einrichtung eines NATO-Weltraumzentrums beim Alliierten Luftkommando in Ramstein, Deutschland. Das auf dem Madrider Gipfel 2022 unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs verabschiedete Strategische Konzept der NATO unterstreicht ebenfalls die entscheidende Rolle des Weltraums für die Abschreckung und die Verteidigungsposition der NATO. Im Februar 2023 kündigte die NATO ihre Pläne zur Einrichtung der Initiative Alliance Persistent Surveillance from Space (APSS) an, die die weltraumgestützte Überwachung und Aufklärung verstärken und damit Lagebewusstsein und Entscheidungsfindung für das Bündnis verbessern soll.[75] Vor allem aber hat die NATO im Rahmen ihrer 2022 veröffentlichten Overarching Space Policy deutlich gemacht, dass auch im und durch den Weltraum der Bündnisfall ausgelöst werden kann: „Allies agreed that attacks to, from, or within space present a clear challenge to the security of the Alliance […]. Such attacks could lead to the invocation of Article 5.“[76]

2019 gründeten die USA die U.S. Space Force (USSF) als fünfte unabhängige Waffengattung des US-Militärs, die erste neue Waffengattung seit 73 Jahren, getragen „from widespread recognition that Space was a national security imperative.“[77] Die Defense Space Strategy (DSS) von 2020 bildete die bemerkenswerten Veränderungen der militärischen Betrachtung ab, indem sie den Weltraum nicht länger nur als Unterstützungsraum für Verteidigungsaktivitäten wertet. Stattdessen charakterisiert die DSS den Weltraum als eigene warfighting domain[78] und betont dessen operativen Nutzen. Der Weltraum ist ohne Zweifel für die moderne Kriegsführung unverzichtbar, denn moderne Streitkräfte sind in hohem Maß auf weltraumgestützte Fähigkeiten angewiesen. Militärisch spielt der Weltraum eine entscheidende Rolle bei der Sicherung und Projektion aller Formen von Macht und wird als kritische Infrastruktur in einer eigenständigen Dimension deklariert. Das führt nicht nur zum allgemeinen Trend der Versicherheitlichung des Weltraums, sondern auch zu einem klassischen Sicherheitsdilemma, das sich aus gegenseitig wahrgenommenen Bedrohungen und dem Aufbau entsprechender Verteidigungskapazitäten ergibt. Der Dual-use-Charakter aller Weltraumtechnologien und -anwendungen verstärkt die Tendenz der Weltraumgroßmächte, Weltraumaktivitäten und -kapazitäten unter sicherheitspolitischen Kriterien zu bewerten. Infolgedessen ist eine Debatte über die Sicherheit von Weltrauminfrastrukturkomponenten entbrannt, die bereits ein Wettrüsten bei Erstschlag- und Verteidigungsfähigkeiten von Counterspace Measures ausgelöst hat. Die beträchtliche Zunahme von Counterspace Capabilities weltweit impliziert, dass Satelliten, ihre Kommunikationssysteme und angebotenen Dienste zunehmend böswilligen Handlungen, elektronischen und Cyberangriffen, dem Missbrauch ungesicherter Daten, der Sabotage von Satellitennavigationssystemen sowie Störung oder Verzerrung von Ortungssignalen ausgesetzt sein werden.[79]

Auch viele westliche Weltraum-Mittelmächte haben mittlerweile eigene Weltraumkommandos oder Weltraumabteilungen eingerichtet: Frankreich im Jahr 2019, Italien 2020, das Vereinigte Königreich und Deutschland 2021 sowie Australien und Kanada 2022. Darüber hinaus haben viele europäische und verbündete Länder kürzlich militärische Weltraumstrategien veröffentlicht – 2019 Frankreich (Space Defence Strategy), 2022 Großbritannien (Defence Space Strategy), Australien (Defence Space Strategy), Niederlande (Defence Space Agenda) und sogar Luxemburg (Defence Space Strategy) – mit einem teilweise relativ offensiven Ansatz der Weltraumverteidigung.[80] Interessanterweise wird die in der Nationalen Sicherheitsstrategie vom Juni 2023 für Deutschland angekündigte Strategie, die im ersten Quartal 2024 veröffentlicht werden soll, gemeinsam von Auswärtigem Amt und Bundesverteidigungsministerium verfasst und soll „Weltraumsicherheitsstrategie“ heißen.[81] Dies steht im Gegensatz zu den Weltraumverteidigungsstrategien der Verbündeten und lässt einen anhaltend rein defensiven Ansatz des künftigen deutschen Handels im Weltraum vermuten.

Der Ukraine-Krieg unterstreicht nicht nur die wachsende Bedeutung des Weltraums in der Kriegführung, sondern auch die Verwundbarkeit von Weltraumsystemen und damit die Notwendigkeit von Maßnahmen zum Schutz vor Angriffen und zur Widerstandsfähigkeit.[82] Um Schutz und Resilienz von Satellitensystemen zu gewährleisten, gibt es verschiedene verfügbare Optionen, die alle Segmente Weltraum, Boden und Kommunikation berücksichtigen müssen, um Sicherheit insgesamt zu maximieren. Zum einen sollten große, strategisch bedeutsame und schwer zu ersetzende Satelliten mit Schutzschilden, Beobachtungsmöglichkeiten für die Umgebung und kleineren Verteidigungsmechanismen wie Lasern ausgestattet sein, auch wenn sich das zusätzliche Gewicht als Last erweist. Zum anderen lässt sich die Resilienz erhöhen durch Optionen für den zügigen Austausch von Satelliten und die Schaffung redundanter Weltraumkapazitäten.[83] Schutz- und Ersatzkonzepte sind zwar teuer, doch kommerzielle Systeme, deren Vielfalt und Anzahl explosionsartig zunimmt, können für den militärischen Sektor wichtige Anknüpfungspunkte und Kooperationsoptionen bieten.

Eine weitere Herausforderung besteht in der Weiterentwicklung und Anpassung des internationalen Rechts an den technologischen Fortschritt und die gegenwärtige und künftige Nutzung des Weltraums. Die im Weltraumvertrag von 1967 niedergelegten allgemeinen Grundsätze genügen den heutigen Sicherheitsherausforderungen im Weltraum nicht mehr. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Rüstungskontrolle, Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen im Weltraum, einschließlich der Definition von Weltraumwaffen.[84] Überdies bedarf es eines verbindlichen kollektiven Managements der Nutzung orbitaler Ressourcen, einschließlich der Bereiche Weltraummüll, Weltraumverkehrsmanagement, Satellitenfrequenzen und Weltraumbergbau.[85] Anpassungen sind dringend erforderlich, damit der Weltraum als globales Gemeingut erhalten bleibt, mit freiem Zugang zur Erforschung durch alle Staaten und nachhaltiger Nutzung.

5 Die Bedeutung von NewSpace-Akteuren

Die militärische Nutzung kommerzieller Raumfahrtdienste, wie in der Ukraine geschehen, macht die Fähigkeiten und mögliche Rolle des NewSpace-Sektors in Konfliktsituationen deutlich. Militärisch tragen zwei Faktoren zur wachsenden Bedeutung nichtstaatlicher Akteure im Weltraum bei. Erstens sind militärische Weltraumsysteme sowohl kritisch als auch verwundbar. Derzeit beruhen sie auf einer relativ kleinen Anzahl teurer, schwer zu ersetzender Satelliten, die in speziellen Konstellationen organisiert sind, sodass sich Angriffe gegen eine begrenzte Anzahl anfälliger und exponierter Ziele drastisch auf die Gesamteffektivität kleiner Konstellationen auswirken können.[86] Daher sind neue Methoden zum Schutz von Satellitensystemen gegen Angriffe aus dem und im Weltraum geboten. Neben technischen Optionen und operationellen Verbesserungen schlagen Harrison, Johnson und Young als Abschreckungsoptionen eine architektonische Verteidigung vor, die sich durch schnelle Bereitstellung und Stationierung bei Satellitenkonstellationen und Bodenstationen stützt, die schwer anzugreifen seien. Disaggregierte, verteilte und ausgebreitete Konstellationen verringern die Abhängigkeit von einzelnen Satelliten und die potenziellen Auswirkungen von Angriffen. Ziel ist eine neue Weltraumarchitektur mit einer größeren Anzahl von Satelliten – kleiner, getrennt und in verschiedenen Umlaufbahnen, um Redundanz zu ermöglichen.[87] Der Aufbau einer solchen Architektur erfordert jedoch erhebliche finanzielle und organisatorische Ressourcen.[88] Dabei kann der Kommerzialisierungstrend in der Raumfahrt eine entscheidende Rolle spielen. Infolge der in den letzten zehn Jahren erheblich gesunkenen Startkosten haben verschiedene Unternehmen und Start-ups die Raumfahrt unter dem Schlagwort NewSpace revolutioniert, indem sie Geschäftsmodelle für Dienstleistungen und Produkte mittels Satellitensystemen entwickelt haben. Basierend auf preiswerten, kleinen Satelliten in komplexen Konstellationen sind diese schwer zu bekämpfen.[89] Die Trends zur Miniaturisierung und zu Megakonstellationen Tausender, bis Ende des Jahrzehnts voraussichtlich Zehntausender, von Kleinsatelliten stellen die bisherige Vormachtstellung der Staaten im Weltraum in Frage.[90] Gleichzeitig haben sie das Potenzial, einen wichtigen Beitrag im Kampf um die Resilienz von Weltraumsystemen zu leisten.[91] Die Zusammenarbeit von Staaten mit kommerziellen Anbietern weltraumgestützter Fähigkeiten und Dienstleistungen kann sowohl die Möglichkeiten von Ländern ohne entsprechende Weltraumkapazitäten, wie z. B. der Ukraine, erweitern als auch die militärische Infrastruktur von raumfahrenden Nationen stärken.[92]

Diese Entwicklungen werfen auch die Frage auf, inwiefern diese Revolution in der Raumfahrt den militärisch dominierten Charakter des Weltraumzeitalters verändern wird.[93] Kommerzielle Akteure können durch ihre technologischen Kapazitäten erhebliche militärische Macht und politischen Einfluss erlangen. Die EU Space Strategy for Security and Defence räumt ein, dass die europäischen Länder zunehmend auf kommerzielle Dienste zurückgreifen müssen, um nationale Ressourcen zu ergänzen, neue Fähigkeiten zu testen oder öffentliche Ressourcen zu entwickeln.[94] Das US-Verteidigungsministerium ist bestrebt, seine Fähigkeiten und Widerstandskraft zu stärken, indem es die militärische Nutzung kommerzieller Raumfahrtsysteme vorantreibt und die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft ausbaut.[95] Derzeit wird auf politischer Ebene geprüft, wie sich bei Vereinbarungen ein klarer Rahmen in allen Bereichen (u. a. Verträge, Finanzierung, Entschädigung, operative Umsetzung) schaffen lässt, der die uneingeschränkte Verfügbarkeit der kommerziellen Systeme gewährleistet, insbesondere in Konfliktzeiten.[96] Ziel ist der Aufbau eines Äquivalents zur Civil Reserve Air Fleet (CRAF)[97] im Weltraum, einer Commercial Augmentation Space Reserve (CASR).[98] Kommerzielle Satelliten werden infolgedessen zunehmend auch für Sicherheits- und Verteidigungsoperationen eingesetzt werden, z. B. zur Nutzung kommerzieller Satellitenbilder für Aufklärungszwecke oder zur Integration von Weltraum-Breitbanddiensten über ein Multi-Orbit-Satellitennetz, um die militärischen Kommunikationsmöglichkeiten zu verbessern.[99]

 SpaceX Präsident Elon Musk und der frühere US-Präsident Barack Obama auf dem Kennedy Raumfahrtzentrum im Jahr 2010

SpaceX Präsident Elon Musk und der frühere US-Präsident Barack Obama auf dem Kennedy Raumfahrtzentrum im Jahr 2010

Die Präsenz und quantitative Dominanz kommerzieller Akteure nimmt im Weltraum weiter rasant zu: 72 Prozent aller Satelliten, die zwischen 2020 und 2022 weltweit gestartet wurden, gehörten den Unternehmen Starlink und OneWeb.[100] Darüber hinaus deuten die bei der Internationalen Fernmeldeunion registrierten Pläne von sieben Unternehmen[101] darauf hin, dass in naher Zukunft über 70.000 weitere Satelliten in die niedrige Erdumlaufbahn (Low Earth Orbit – LEO) gebracht werden könnten.[102] Kommerzielle Akteure bieten häufig gleichwertige oder teilweise sogar besser geeignete Dienste und Daten an. Während militärische Spionagesatelliten für breites Situationsbewusstsein und Lageaufklärung effektiv sind, überfliegen nicht häufig genug spezifische Regionen, um Echtzeitinformationen zu liefern. Daher geht bei der Erdbeobachtung der Trend hin zu einem Schwarm niedrig fliegender Satelliten, die von privaten Unternehmen und nicht mehr von Staaten kontrolliert werden.[103]

Private Akteure sind inzwischen gewichtige politische Mitspieler, die unabhängig entscheidende Informationen sammeln, diese Konflikt- oder Kriegsparteien zur Verfügung stellen, an die Öffentlichkeit oder die Medien weitergeben können.[104] So können kommerzielle Raumfahrtakteure in modernen David-gegen-Goliath-Konflikten zu „Gleichmachern“ werden. Mit Blick auf die Ukraine wird über Kommerzialisierung oder sogar Privatisierung der Kriegführung diskutiert, weil kommerzielle Unternehmen und Privatpersonen ohne direkte Verbindung zum Krieg in die Kriegshandlungen einbezogen wurden.[105] Obwohl der NewSpace-Sektor nicht unabhängig von Staaten agieren kann und auch kommerzielle, private Unternehmungen im Weltraum der Regulierung von Regierungen unterstehen,[106] wirft dieser Trend politische und rechtliche Fragen auf, die von der Politik adressiert werden müssen. Staaten und kommerzielle Weltraumakteure müssen ihre Beziehungen auf Grundlage ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten und teils neuen Rollen in Zeiten von Konflikten und Kriegen neu interpretieren und organisieren. Denn beide Seiten sind mit komplexen Herausforderungen konfrontiert, die Anpassungen verlangen:

  • Unternehmen mit militärisch relevanten Produkten und Dienstleistungen sollten sich darauf einstellen, dass diese in Konfliktzeiten möglicherweise von verschiedenen, unter Umständen auch gegnerischen Parteien nachgefragt werden.[107] Kommerzielle Systeme können Ziele für Angriffe und Vergeltungsschläge werden. Unternehmen sollten insbesondere ihre IT-Sicherheitssysteme verbessern, da kommerzielle bisher nicht denselben Cybersicherheitsanforderungen wie militärische Systeme unterliegen.[108] Gleichwohl müssen Entscheidungen über Sicherheitsregularien, möglichen militärischen Schutz und gegebenenfalls eine Vergeltung bewaffneter Aggression gegen kommerzielle Systeme weiterhin von der Politik getroffen werden.[109] Die Industrie muss sich im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit darüber im Klaren sein, wofür ihre Dienstleistungen und Produkte eingesetzt werden könnten, d. h. eventuell auch für Kampfeinsätze.[110] Damit wären kommerzielle Akteure jedoch explicitly complicit, wie Elon Musk erst kürzlich warnte.[111] In diesem Zusammenhang kritisiert er, dass die Zurverfügungstellung von Starlink für die Ukraine niemals für offensive Zwecke intendiert war – „Ukraine ‚weaponized‘ Starlink“.[112]

  • NewSpace ist inzwischen für Staaten ein wichtiges Machtinstrument im Weltraum.[113] Die Regierungen sollten dementsprechend mit der Privatwirtschaft einen engeren regelmäßigen Austausch, etwa den Aufbau einer Kooperationsplattform für NewSpace-Unternehmen und idealerweise verbindliche Übereinkommen (wie die USA mit der CASR planen) aufbauen, um deren Unterstützung in Konfliktzeiten gesichert in Anspruch nehmen zu können.[114] Allerdings ist zu bedenken, dass Interessen von Unternehmen nicht immer mit denen der Regierung übereinstimmen.[115] So weigerte sich SpaceX, die Starlink-Signale in der Nähe der Krim freizuschalten sowie deren Verwendung für Drohnenangriffe aus großer Entfernung und für offensive militärische Zwecke zuzulassen.[116] Infolgedessen kaufte das US-Verteidigungsministerium mehrere hundert Starlink-Terminals und -Dienste, um die Kontrolle über die Konfiguration des Starlink-Internetsignals für diese Geräte und über deren verfügbare Einsatzorte in der Ukraine zu erlangen.[117] Wegen der Ungewissheit, dass kommerzielle Anbieter während künftiger Konflikte ihre Dienste verweigern könnten, ziehen militärische Planer explizite Vertragsbedingungen für künftige Vereinbarungen bei Weltraumsysteme in Betracht.[118] Die europäischen Regierungen sollten ebenfalls sorgsam abwägen, wie sie ihre Kooperation mit kommerziellen Weltraumakteuren regulieren und welche Anforderungen und Verfahren sie für die militärische Nutzung kommerzieller Produkte festlegen wollen. Zudem sollten beide Parteien, die Verpflichtungen des Militärs klären zur Verteidigung der Vermögenswerte des Unternehmens, der Satelliten und Bodenstationen, wenn dieses während eines Konflikts militärische Unterstützung leistet.[119]

Die größere Vielfalt von Akteuren im Weltraum wird sowohl praktische Implikationen als auch Auswirkungen auf die politische Dynamik haben. Eine wirksame Koordinierung von Akteuren und Aktivitäten ist daher womöglich die größte Herausforderung im Weltraum.[120] Diese maßgeblich politische Aufgabe bringt mehrere praktische Fragen mit sich:

  • Die rasche, geradezu explosionsartige Zunahme kommerzieller Kommunikations- und Bildgebungsdienste macht es sehr wahrscheinlich, dass auch Gegner diese Produkte in künftigen Konflikten einsetzen werden. Der Zugang wird allerdings nicht universell sein. Westliche Unternehmen dominieren zwar weiterhin den Raumfahrtsektor, unterliegen aber beim Verkauf ihrer Produkte und der Bereitstellung ihrer Fähigkeiten sowohl formellen als auch informellen Beschränkungen. Das verschafft westlichen Regierungen einen Vorteil bei der Unterstützung ihrer Partner.[121] So wird es derzeit Staaten wie Iran oder Nordkorea aufgrund staatlicher Regulierung des jeweiligen nationalen NewSpace-Sektors nicht möglich sein, das Niveau weltraumgestützter Dienste, auf das die Ukraine inzwischen zugreifen kann, käuflich zu erreichen – egal für welchen Preis.[122] Trotzdem sind umfassende Regelungen für das Engagement und das Geschäftsmodell in der NewSpace-Industrie notwendig, um Transparenz und Vertrauenswürdigkeit für alle Beteiligten zu gewährleisten.

  • Die NewSpace-Industrie wiederum, die sich in erster Linie auf kommerzielle Ziele konzentriert hat, muss sich auf potenzielle militärische Anwendungen ihrer Produkte und Services einstellen.[123] Die Unternehmen sollten Verfahren einrichten, um auf solche Anfragen und eine gegebenenfalls militärische Anwendung in Konflikten, auch gewaltsamer Art, zu reagieren und die Nutzung überwachen zu können. Es ist wichtig, sich bewusst zu sein, dass sich nicht alle potenziellen Konflikte immer so eindeutig bewerten lassen werden wie die Verletzung des Völkerrechts durch Russlands Krieg gegen die Ukraine, bei der sich westliche Unternehmen problemlos für die „richtige Seite“ entscheiden konnten.[124]

Die umfassende militärische Nutzung kommerzieller Dienste und die Einbindung von NewSpace-Unternehmen in Konflikt- und Kriegsszenarien erfordern, dass die Staaten eine umfassende Bewertung vornehmen und die strategischen Verwundbarkeiten und Abhängigkeiten effizient managen. Die Dominanz von Starlink im Satelliteninternet und der Einfluss auf militärische Kommunikation und Nutzung sind in diesem Zusammenhang besonders kritisch:

  • Starlink hat in Zusammenarbeit mit seiner Muttergesellschaft SpaceX in Bezug auf Fähigkeiten, Marktanteil und Gesamtdynamik eine beherrschende Stellung in der internationalen Raumfahrtindustrie erreicht. Von 2020 bis 2022 führte SpaceX 73 Prozent der US- und 25 Prozent aller Raketenstarts weltweit durch. Allein die Installation des Starlink-Netzwerks war für fast 60 Prozent der Starts verantwortlich mit über 1.800 Satelliten in den Jahren 2020 und 2021 sowie nochmal fast identischer Anzahl 2022.[125] Mitte 2023 hatte Starlink rund 4.500 Satelliten in der LEO-Umlaufbahn, was über 50 Prozent aller aktiven Satelliten entspricht.[126] Seit 2021 in Betrieb, ist Starlinks Internetservice inzwischen in mehr als 50 Ländern verfügbar und oft der einzige Anbieter von Internetzugang in abgelegenen oder kriegszerstörten Gebieten sowie nach Naturkatastrophen. Darüber hinaus ist der Dienst besonders attraktiv für Fluggesellschaften, Kreuzfahrt-, Frachtschiffe sowie das Militär und hat Berichten zufolge bereits mehr als 1,5 Millionen Abonnenten.[127] Vor diesem Hintergrund ist es unwahrscheinlich, dass Starlinks Dominanz im Weltraum in absehbarer Zeit von irgendjemand herausgefordert werden kann.

  • Von besonderer Bedeutung ist in Anbetracht der marktbeherrschenden Stellung von Starlink die Managementstruktur von SpaceX. Elon Musk fungiert als Gründer, Vorsitzender und Geschäftsführer und trifft daher alle wichtigen Unternehmensentscheidungen: „This is not just one company, but one person.“[128] Er allein hat die Befugnis, den Starlink-Internetzugang eines Kunden oder Landes zu kündigen oder einzuschränken und kann auf die sensiblen Informationen zugreifen, die der Dienst erfasst.[129] Er hat das positive Image, mit unkonventionellen, (über)ehrgeizigen Strategien und Ideen auf sich aufmerksam zu machen und den Mut zu haben, ehrgeizige Projekte zu verfolgen, gilt aber auch als „schnell entflammbare Persönlichkeit“ mit „verschwommenen Loyalitäten.“[130] Für die Ukraine bedeutet dies, dass ihr Erfolg auf dem Schlachtfeld teilweise „von den Launen eines wankelmütigen Milliardärs“ abhängt.[131]

  • In der Ukraine hat sich als Starlink als entscheidend für die Kriegführung erwiesen. Diese immense Relevanz kommerzieller Systeme birgt jedoch auch Risiken und wirft ernstzunehmende politische Fragen auf.[132] Zum einen können Unternehmen in die ungewohnte Situation geraten, dass ihre Geschäftsinteressen in Diskrepanz mit dem politischen Interesse des Auftraggebers oder ihres Heimatlands geraten. So hat Musk beispielsweise die Verfügbarkeit von Starlink an den Frontlinien während des Krieges mehrfach durch Geofencing eingeschränkt und zwischenzeitlich einen Friedensplan für Russland und die Ukraine vorgeschlagen, der keineswegs den Interessen der Ukraine entsprach.[133] Ferner stellte Starlink der Ukraine zunächst den Dienst zu geringen Kosten zur Verfügung. Ab September 2022 verlangte das Unternehmen dann vom US-Verteidigungsministerium, für Regierung und Militär der Ukraine Servicegebühren in Höhe von mehreren hundert Millionen US-Dollar jährlich zu zahlen, obwohl 85 Prozent der Terminal- und 30 Prozent der Verbindungskosten bereits von den USA und europäischen Ländern getragen wurden. Diese Forderungen zog Musk später zurück.[134] Als heldenhafter Unterstützer der Ukraine konnte er mit SpaceX die Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit der von ihm entwickelten Technologieprodukte unter Beweis stellen und gleichzeitig Einnahmen für eines seiner Vorzeigeprojekte generieren.[135] Mögliche politische Einflussnahme kommerzieller Raumfahrtunternehmen, insbesondere des „Geopolitical Chaos Agent“ Musk,[136] kann zum anderen aber auch über den Krieg in der Ukraine und Konflikte mit Geschäftsinteressen hinausgehen und grundsätzliche Einfluss- und Interessenskonflikte zwischen gewichtigen kommerziellen und politischen Akteuren betreffen. Neben mangelnder Abstimmung mit politischen Stellen stellt zudem die fragliche Legitimität von Privatakteuren zur Lösungsfindung komplexer Fragen die internationale Politik vor Herausforderungen.[137]

  • Die Kontrolle von SpaceX bzw. Musk über Starlink als militärisch kritischem System hat nicht nur die skizzierten Einschränkungen und vorübergehenden Abschaltungen des Dienstes sowie die zeitweisen finanziellen Forderungen ausgelöst, sondern auch die militärische Strategie und das Vorgehen sowohl der Ukraine als auch der USA beeinflusst. Musks Verhalten hat gezeigt, dass die Unterstützung seitens privater Akteure nicht als selbstverständlich gegeben und dauerhaft angesehen werden kann.[138] In diesem Zusammenhang wurde die Aufmerksamkeit auf Risiken gelenkt, die entstehen können, wenn sich Staaten zu sehr auf NewSpace-Akteure verlassen. Mittlerweile gibt es erhebliche politische und militärische Bedenken gegenüber zu großer Abhängigkeit von kommerziellen weltraumbasierten Kapazitäten, insbesondere vom dominierenden Starlink-System, und speziell gegenüber dem Einfluss von SpaceX und seinem Gründer Elon Musk – einem NewSpace-Unternehmen und einer Privatperson – auf den Ukraine-Krieg.[139] Die ukrainische Regierung, die für ihr Überleben und ihre militärischen Operationen Starlink überaus dankbar, aber darauf angewiesen ist, hat ihre Frustration über die Beschränkungen des Dienstes und ihre Sorge einer zu großen Abhängigkeit zum Ausdruck gebracht. Sie hat bereits alternative Satelliteninternetanbieter konsultiert, von denen allerdings bisher keiner mit den weitreichenden Möglichkeiten von Starlink mithalten kann.[140]

6 Implikationen für die Weltraumpolitik Europas

Über 70 Länder sind derzeit mit nationalen Raumfahrtbehörden und zivilen oder militärischen Raumfahrtprogrammen im Weltraum aktiv. Allerdings haben bisher nur zehn Nationen unabhängige Startkapazitäten entwickelt, d. h. alle Fähigkeiten, selbst Satelliten ins All bringen zu können. Nur sechs Akteure – die USA, Russland, Japan, die EU (bzw. die Länder der Europäischen Weltraumagentur ESA), China und Indien – gelten als Weltraumgroßmächte aufgrund ihrer umfassenden End-to-end-Fähigkeiten und ihrer Selbstständigkeit bei Weltraumunternehmungen.[141] Diese Autonomie existiert jedoch nur theoretisch, denn selbst unter den Weltraumgroßmächten bestehen strategische Abhängigkeiten, wie unter anderem bei der Zusammenarbeit der ESA mit Russland. Sogar US-Trägerraketen waren auf Triebwerke und Raketenstufen aus Russland und der Ukraine angewiesen. Das russische Sojus-Raumschiff – oft international genutzt und als space workhorse bezeichnet – war bis 2020 das einzige Transportmittel für Besatzungen zur Internationalen Raumstation, und der von Russland betriebene Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan diente häufig internationalen kommerziellen Starts.[142] Aufgrund der Unterstützung des Westens für die Ukraine im russischen Angriffskrieg weigert sich Russland jedoch seit 2022, zuvor geplante Starts für Kunden wie die ESA, EU und OneWeb durchzuführen.[143]

Der Krieg in der Ukraine hat daher Schwachstellen der Raumfahrtkooperation insbesondere für Europa aufgedeckt. Die globalen Lieferketten im Raumfahrtsektor sind hochkonzentriert und fragil, da sie sich auf eine kleine Anzahl von Schlüsselakteuren und hochspezialisierte Komponenten stützen. Die Russische Föderation und die Ukraine sind, aufbauend auf dem Raumfahrtprogramm der UdSSR, auf diesem Hochtechnologiemarkt international bedeutend als Handelspartner, Hersteller von Komponenten und vollständigen Raumfahrtsystemen sowie als Dienstleister für Weltraumstarts.[144] Infolge der engen Zusammenarbeit von ESA und Roskosmos, der Raumfahrtbehörde der Russischen Föderation, ist Europa in hohem Maß auf russische Trägerraketen als Zugang zum Weltraum angewiesen.[145] Jahrzehntelang waren die europäischen Raumfahrtaktivitäten bewusst auf internationale Zusammenarbeit ausgelegt – auch die Raumfahrtkooperation mit Russland zielte auf eine wechselseitig vorteilhafte Beziehung ab.[146]

Europa war daher zutiefst betroffen, als Russlands Krieg in der Ukraine zu einer Reihe von Sanktionen führte, die die enge Kooperation der europäischen und russischen Raumfahrtindustrie völlig zum Erliegen brachten und mit weiteren Spill-over Effekten auf die internationale und europäische Raumfahrtindustrie wirkten.[147] Die gravierendsten Auswirkungen waren: (1) die Absage der Sojus-Starts vom Raumfahrtzentrum Guayana durch Roscosmos, (2) die Verzögerung der ExoMars-Rover-Mission, (3) die Komplikationen für die europäischen Trägerraketen Vega und Vega-C, die Triebwerke ukrainischer Bauart verwenden, (4) eine Reihe von Anpassungen bei den Starts für die Navigationskonstellation Galileo und für Copernicus, das Erdbeobachtungsprogramm der EU. Sie bewirkten, dass vorerst keine weiteren Galileo-Satelliten ins All geschickt werden können, weil derzeit keine Partner freie Raketenkapazitäten haben und die im All befindlichen Satelliten nicht ausreichen, um das System auf souveräner europäischer Basis zu betreiben.[148]

Die Zeitenwende der russischen Aggression gegen die Ukraine stellt somit auch eine Zeitenwende für die europäische Raumfahrt dar. Obwohl Europa sich als global space power betrachtet,[149] legt die aktuelle Situation erhebliche Schwachstellen im europäischen Raumfahrtsektor sowie die einseitige Abhängigkeit von Russland offen. Europas Raumfahrtindustrie war in erheblichem Ausmaß auf russische Fähigkeiten angewiesen, was unterstreicht, wie begrenzt die Fortschritte auf dem Weg zu einer europäischen strategischen Autonomie im Weltraum bisher sind.[150] Durch die plötzliche Einstellung der Sojus-Starts in Kombination mit dem Auslaufen der Ariane-5-Trägerrakete und den Verzögerungen bei der Entwicklung der Ariane 6 hat Europa vorübergehend seinen eigenen Zugang zum Weltraum verloren und kann selbst die wichtigsten Satelliten in naher Zukunft nicht mehr autonom in den Orbit bringen. Wenn Satelliten gestört, gehackt oder zerstört werden, kann Europa sie nicht durch eigene Trägerraketen ersetzen – ein operativ und symbolisch schwerer Schlag für Europa.[151] Das European Space Policy Institute beschreibt schonungslos diese schmerzliche Realität für Europa: „the war has revealed that the relationship in space did not take geopolitical developments over the past decade into account and the underlying risks these developments represented for Europe’s space capabilities.“[152]

 Haupt-Kontrollraum des Europäischen Raumflugkontrollzentrums (ESOC) in Darmstadt

Haupt-Kontrollraum des Europäischen Raumflugkontrollzentrums (ESOC) in Darmstadt

Auf politischer Ebene haben die Auswirkungen der geopolitischen Zeitenwende des russischen Angriffskriegs und die Folgen für den Raumfahrtsektor einen Erkenntnisprozess in Gang gesetzt. Der Strategische Kompass für Sicherheit und Verteidigung, den die EU im März 2022 veröffentlicht hat, erkennt den Weltraum als operativen und strategischen Bereich an, der immer kompetitiver und umkämpfter wird.[153] Da die europäische „Handlungsfreiheit […] von einem sicheren, geschützten und autonomen Zugang zum Weltraum ab[hängt]“[154], „ist es dringend erforderlich, die derzeitige Weltraumstrategie zu ergänzen und die Sicherheits- und Verteidigungsdimension der Union im Weltraum zu stärken.“[155] Die Weltraumstrategie der Europäischen Union für Sicherheit und Verteidigung (EU Space Strategy for Security and Defence), die im Strategischen Kompass angekündigt und im März 2023 veröffentlicht wurde, erklärt ebenfalls die Absicht der EU, ihre technologische Souveränität zu stärken, eigene Fähigkeiten zu entwickeln und die Widerstandsfähigkeit zu erhöhen.[156] Die Strategie unterstreicht die Bedeutung eines autonomen Zugangs zum Weltraum, einschließlich der Auffüllung von Satellitenkonstellationen, dem Ersatz einzelner Satelliten und der Platzierung künftiger Konstellationen, um die Widerstandsfähigkeit der Weltrauminfrastruktur zu gewährleisten.[157]

Die Folgen des Ukraine-Kriegs für den Raumfahrtsektor einerseits und die ehrgeizigen, in den jüngsten Sicherheits- und Weltraumstrategien dargelegten Ansprüche der EU im Weltraum andererseits bedeuten für die Zukunft des europäischen Raumfahrtsektors zahlreiche Herausforderungen, die dringend politischen Handlungsbedarf erfordern:

  • Europas große Abhängigkeit von Russland beim Zugang zum Weltraum hat eine überfällige politische Diskussion über die Notwendigkeit eines autonomen und unabhängigen europäischen Zugangs ausgelöst. Auch wenn Europa mit Unterstützung internationaler Partner und kommerzieller Unternehmen wie SpaceX den Start europäischer Missionen und Satelliten, die mit russischen Trägern geplant waren, mit Verspätung wird bewerkstelligen können, bleibt der Zugang der Engpass zur Nutzung des Weltraums. Die strategische Autonomie Europas und weitgehende Unabhängigkeit von anderen Akteuren im Weltraum sind entscheidende, wenngleich langfristige Ziele, die unverzüglich in Angriff zu nehmen sind, um im strategischen Wettbewerb um den Weltraum nicht weiter zurückzufallen. Es ist notwendig, die Raumfahrt als zentralen, übergreifenden Schwerpunktbereich zu etablieren und zu priorisieren. Europa muss die Zusammenarbeit mit transatlantischen und gleichgesinnten Partnern zwar ausbauen, aber zugleich Autonomie wahren und Flexibilität und Resilienz durch weitere Startmöglichkeiten in Kontinentaleuropa erhöhen. Nicht zuletzt müssen strategische Fähigkeiten definiert werden, bei denen Unabhängigkeit Priorität hat, was die notwendige politische Unterstützung, strategische Planung und ausreichende Finanzierung voraussetzt. Wie für Europa typisch wurden die Probleme zwar erkannt und die Notwendigkeit geeigneter Maßnahmen aufgezeigt, u. a. in der EU Space Strategy for Security and Defence (EU SSSD). Doch entscheidend wird sein, ob die EU und die großen europäischen Raumfahrtnationen – zu denen Deutschland (noch) zählt – diesen Weckruf nach strategischer Autonomie im Weltraum auch in der Praxis beherzigen werden.[158]

  • Die wirtschaftlich wie militärisch zunehmende Bedeutung von NewSpace sowie seine Rolle als Motor für Innovationen in der Raumfahrt erfordert ein Umdenken und eine Neuordnung der Beziehungen zwischen staatlichen Raumfahrtbehörden und kommerziellen Akteuren notwendig. Europäische Organisationen wie die ESA und nationale Regierungen sollten dringend „the way they ‚think‘ and ‚do‘ space internationally“[159] überdenken. Da vorrangig der kommerzielle Sektor Innovationen hervorbringt, sollten nationale Raumfahrtagenturen nicht mehr selbst neue Fähigkeiten entwickeln, sondern als Kunden fungieren und diese von dynamischen Unternehmen beziehen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die ESA ihren auf dem Weltraumgipfel im November 2023 beschlossenen neuen Ansprüchen gerecht wird, „Beschaffungsverfahren zu beschleunigen, ihre Rolle als Hauptkunde für kommerzielle Zulieferer auszubauen und gleichzeitig die Entwicklung bahnbrechender Technologien und Programme zu fördern“ und „einen unterbrechungsfreien Zugang zum Weltraum aufrecht[zu]erhalten“[160].

  • Die europäischen Raumfahrtbemühungen konzentrierten sich bisher weitgehend auf zivile und kommerzielle Aktivitäten, wobei der Schwerpunkt auf dem internationalen Handel, der Zusammenarbeit und der Weltraumforschung lag. Deshalb gingen die Europäer Raumfahrtfragen isoliert von geopolitischen Entwicklungen an und räumten den Fortschritten und Vorteilen, die sich aus der Zusammenarbeit bei Politiken und Programmen ergeben, uneingeschränkten Vorrang ein.[161] Doch müssen Raumfahrt und Aktivitäten des zivilen Raumfahrtsektors auch stärker mit Blick auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik betrachtet werden. Bei neuen Fähigkeiten und Technologien sind unbedingt mögliche Dual-use-Implikationen zu berücksichtigen, insbesondere im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit.[162] Denn wie Bowen zutreffend aus strategischem Blickwinkel konstatitert: „Space science, especially collaborative international space science, is politics.“

  • Europa muss seine Fähigkeit erheblich verbessern, Bedrohungen aus dem Weltraum rechtzeitig, angemessen und konsequent zu erkennen und darauf zu reagieren. Dies erfordert nicht nur gründliches Verständnis und Bewerten der Fähigkeiten von Drittstaaten zur Bekämpfung von Weltraumbedrohungen, sondern auch eine analytische Verknüpfung mit anderen Aktivitäten im Orbit, am Boden und im Cyberbereich.[163] Bedrohungen im oder durch den Weltraum einem Drittland zuzuschreiben und über die Reaktion zu entscheiden ist wegen des inhärenten Dual-use-Charakters aller Weltraumkapazitäten eine hochgradig politische Entscheidung, wie die Kommission selbst feststellt.[164] Heute sind die Widerstandsfähigkeit der Weltrauminfrastruktur und die Verfügbarkeit eines souveränen Zugangs zum Weltraum von großer Bedeutung für die Außen- und Sicherheitspolitik nationaler Regierungen und deren Handlungsfähigkeit.[165] Der Strategische Kompass für Sicherheit und Verteidigung der EU wertet die aktive Untergrabung des Zugangs zur Weltraumdomäne durch strategische Konkurrenten als sich rasant entwickelnde Herausforderung für die europäische Verteidigung.[166] Angemessene Verteidigungs- und Abschreckungskapazitäten sieht die EU daher als essentiell an, um ihre strategischen Interessen im Weltraum zu verteidigen und feindliche Aktivitäten im und aus dem Weltraum abzuwehren.[167] Dazu ist die EU auch im Weltraum auf ihre Mitgliedstaaten angewiesen, auch wenn ihr deren Grenzen bewusst sind.[168]

7 Ausblick

Die politische Aufmerksamkeit für und den strategischen Blick auf den Weltraum hat nicht zuletzt der Ukraine-Krieg geschärft. Der orbitale und auch der lunare Raum sind wieder von erheblichem wirtschaftlichem und militärischem Wert und von strategischer Bedeutung in der neuen Rivalität der Großmächte.[169] Zugleich verfügt eine wachsende Zahl von Staaten über beträchtliche Raumfahrtkapazitäten, während private Unternehmen und kommerzielle Anbieter strategische Funktionen öffentlicher Einrichtungen übernehmen.

Starlink hat sich einerseits für die Ukraine als „Geschenk des Himmels“ erwiesen. Andererseits zeigten sich die Risiken, die in Konfliktzeiten mit der Abhängigkeit von einem einzigen kommerziellen Unternehmen bei einer solch wichtigen Kommunikationsinfrastruktur einhergehen:[170] „no event has demonstrated Starlink’s power – and Mr. Musk’s influence – more than the war in Ukraine.“[171] Privatunternehmen, insbesondere wenn sie in eigener Sache handeln, können ihre Unterstützung schneller und flexibler anbieten als Staaten, da sie die politische Komplexität bei Beschaffung und Krisenreaktion umgehen können.[172] Darüber hinaus offenbart Starlink exemplarisch weitere Vorteile kommerzieller gegenüber militärischen Systemen: Sie sind relativ billig, lassen sich schneller herstellen und einsetzen und stehen zumeist in großer Zahl bereits direkt vom Regal zur Verfügung.[173] Gleichwohl kann die Unterstützung von Kriegsparteien heikle politische Implikationen für NewSpace-Akteure haben und die klare Positionierung für eine Seite nicht immer so leicht fallen wie im Fall Ukraine. Weil private Unternehmen aber zunehmend in Konflikten und für die Kriegführung relevante weltraumgestützte Technologien und Fähigkeiten entwickeln und bereitstellen, müssen die westlichen Demokratien ihre staatlichen Beschaffungs- und Reaktionssysteme entsprechend anpassen. Das verlangt auch, kommerzielle Anbieter von weltraumbasierten Dienstleistungen regelmäßig in militärische Übungen einzubeziehen. Dabei können die europäischen Staaten von der Ukraine lernen, wie sich vorhandene handelsübliche Systeme mit minimalem bürokratischem Aufwand und sofortiger Wirkung pragmatisch in das Militär integrieren lassen.[174] Darüber hinaus müssen sie bei der politischen und militärischen Planung von Krisenreaktionsmaßnahmen bedenken, dass künftig in Konflikten und Kriegen wohl beide Seiten diese Technologien einsetzen und nutzen werden. Daher ist zwingend der verantwortungsvolle Einsatz kommerzieller Technologien in Konfliktgebieten und Kriegführung zu regeln, denn „in one way or another, they do influence battlefield performance in a tangible way.“[175]

Europa muss mit Blick auf den Weltraum dringend einen Perspektivwechsel vollziehen: „Moving away from an idealistic view of space as a place merely of exploration, curiosity, harmless prestige competition, and international science cooperation is an important step in trying to make things better. The military heritage of space technology in its original sin and the military exploitation of space is not going away any time soon unless world politics dramatically changes.“[176] Ein Sinneswandel scheint sich langsam abzuzeichnen, ist aber gerade in Deutschland noch nicht in der Politik und noch weniger in der Öffentlichkeit angekommen. Das Militär wird noch stärker von Weltraumsystemen abhängig sein und die Konflikte auf der Erde werden mehr als schon heute auch außerterrestrisch ausgetragen werden. Kriegführung im Weltraum wird – auch unter Beteiligung nichtstaatlicher Akteure – zunehmen und gefährdet die künftige Nutzung des Weltraums, die ja der gesamten Menschheit dienen soll. Dies gilt insbesondere, da jeder Kampf im Weltraum Trümmer erzeugen und Satelliten im Orbit beschädigen würde. Auch dieses Problem muss die Politik aufgreifen – nicht nur der Sicherheit auf der Erde, sondern auch der Zukunftsfähigkeit von Weltraumaktivitäten und nachhaltigen Weltraumnutzung zuliebe. Schließlich ist der Weltraum astrophysikalisch betrachtet die zerbrechlichste Umwelt, da sie das geringste Vermögen hat, sich selbst zu regenerieren.[177]

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Online erschienen: 2024-03-23

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Downloaded on 30.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2024-2004/html
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