28. Juni 2022

Zeitenwende - leider auch ein bisschen persönlich Ein Kommentar von Dirk Brengelmann

Ein Kommentar von Dirk Brengelmann

Zeitenwende - leider auch ein bisschen persönlich

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Der russische Einmarsch in der Ukraine und die brutale Kriegsführung seitens der russischen Armee haben in der Tat eine Zeitenwende bedeutet. Die Reaktion von Bundeskanzler Scholz zur Fortführung der nuklearen Teilhabe und das Sondervermögen für die Bundeswehr, solche Entscheidungen waren in unserer vorsichtigen sicherheitspolitischen Kultur nur in dieser Extremlage denkbar.


Noch dramatischer ist die Auswirkung auf unsere europäische Sicherheitsordnung.
Und hier wird es für viele Diplomaten und Militärs, ob schon im Ruhestand oder noch aktiv, zutiefst persönlich.
Erst war das Bemühen auf die Überwindung des Eisernen Vorhangs und des Kalten Kriegs, dann auf die Neuordnung Europas nach dem Ende des Warschauer Paktes gerichtet.


Die Wegmarken waren die Schlussakte von Helsinki von 1975 und später die Charta von Paris von 1990.
Legionen von Diplomaten haben Jahrzehnte daran gearbeitet, solche Abkommen und Instrumente für eine regelbasierte internationale Ordnung, besonders in Europa, zu entwickeln, zum Teil während ihres ganzen Berufslebens. Die Situation nach dem Ende des Kalten Krieges gab Auftrieb und Hoffnung. Die Erweiterung der NATO und der EU um mittel- und osteuropäische Staaten wurde begleitet und abgefedert durch mehrere Abkommen mit Russland.


Eine formelle Zusage der NATO, nicht gen Osten zu erweitern, hat es nicht gegeben.
Aber Zusagen zur Sicherheit Russlands, ganz besonders im NATO Russia Founding Act von 1997 (kein „permanent stationing of substantial combat forces „in den neuen Mitgliedsstaaten, wobei substantial nie konkret definiert wurde, aber im Grundsatz mit ständigen Rotationen zB. von Truppen in den baltischen Ländern beachtet wurde.). Ob / was davon nun noch Geltung hat bzw. haben wird, das werden wir wohl nach dem NATO-Gipfel Ende dieser Woche wissen, wenn die NATO ein neues Strategisches Konzept beschließen will und Absprachen zur Stärkung der Ostflanke der NATO treffen dürfte.


Aber trotz all diesen Abkommen mit Russland ging es am Ende schief. Und ja, man hätte es wohl kommen sehen können. War Putin bei seiner Rede im Bundestag 2001 noch kooperativ gesinnt, so war seine Rede im München 2007 schont ein deutliches Zeichen seiner Verärgerung über den Zusammenbruch der Sowjetunion und über die NATO-Erweiterung, voller Kritik an der NATO und den USA - ein Paukenschlag, wie es damals hieß, den man aber nicht so ernst nehmen wollte.


War Jelzin noch dem Gedanken eines NATO-Beitritts seines Landes gegenüber offen, war bei Putin davon keine Rede mehr.


Der NATO-Gipfel im Jahr 2008 gab einen weiteren Anlass für Putin. Deutschland, Frankreich und einige andere Staaten wollten keinen Beschluss eines Membership Action Plans (das konkrete Instrument, um Staaten in die NATO zu führen) für die Ukraine und Georgien, waren aber auf Druck von Präsident Bush und den Osteuropäern gezwungen, den berühmten Satz „Ukraine and Georgia will become members...“ zu akzeptieren.
Beim unmittelbar folgenden NATO-Russland-Rat mit Präsident Putin ließ dieser seine Verärgerung über diesen Beschluss deutlich verlauten.


Im August war der russische Angriff auf Georgien. In der Ukraine wollte Putin das EU-Assoziierungsabkommen verhindern, was ihm aber letztlich nach der Flucht von Präsident Janukowitsch nicht gelang. 2014 kam dann die russische Okkupation der Krim und der Konflikt im Donbass. Hätte man das verhindern können, wenn man beim NATO-Gipfel im Jahr 2008 den MAP an die Ukraine und Georgien verliehen hätte, wie einige Kritiker unserer Politik jetzt sagen? Ich habe da Zweifel. Putin war mittlerweile schon auf einen anderen Kurs eingeschwenkt. Aber auch die Umkehrung dieser Theorie ist schwer zu verifizieren (ohne den bekannten Satz im NATO-Kommuniqué wäre Russland nicht provoziert worden). Das bleibt eine hypothetische Betrachtung.


Neben der NATO-Erweiterung bzw. vermutlich noch besorgter stimmten Putin die verschieden Farbrevolutionen, die mit Georgien und der Ukraine zunehmend auch in unmittelbarer Nähe zu Russland stattfanden. Um diese Gefahr zu beseitigen, brauchte er wieder Kontrolle über den einstigen Hinterhof Russlands, so sein Denken. Das imperiale Russland (Land zurückholen, wie Präsident Putin das jüngst nannte) und die Sorge eines Autokraten vor demokratischen Revolutionen haben sich hier gekreuzt. Ich sprach von den Legionen, die an dem Versuch der friedlichen Koexistenz und dann der Neuordnung Europas gearbeitet haben. Der Frust über das aktuelle Geschehen und die Sorge über die zukünftige Sicherheit mit einem feindseligen Russland sitzen tief. Wie mit Russland wieder reden, wenn es gleichzeitig im Osten der Ukraine wütet. Und kann man diesem russischen Präsidenten je wieder vertrauen. Auch da habe ich starke Zweifel. Also warten auf eine Post Putin Ära? Wenn das mal kein Warten auf eine surreale Godot Situation würde...


Aber was kann man in dieser allgemeinen Ratlosigkeit tun?


Erst mal die Ukraine stützen, mit Munition und Waffen, denn derzeit hat die Ukraine im Osten einen ganz schweren Kampf zu bestehen. Vorsicht walten lassen mit Ratschlägen, was die Ukraine für einen Frieden mit Russland machen muss. Der Zeitpunkt eines solchen Ansatzes mag demnächst mal kommen, aber derzeit ist es noch nicht so weit. Weiter daran arbeiten, dass unsere Politik international unterstützt wird, dass China und Indien sich bei einer offenen Unterstützung von Russland zurückhalten. Die Abhängigkeit von russischer Energie zügig reduzieren. In diesem Kontext sind die Anstrengungen von Minister Habeck sehr lobenswert.


Und die EU-Perspektive für die Ukraine. Da bin ich im inneren Widerstreit. Politisch und moralisch wäre es ein richtiges Zeichen, aber wir haben schon genug Kandidaten, die im Wartezimmer der EU schmoren. Wenn die Ukraine nach der NATO-Perspektive auch noch die EU-Perspektive als Bluff erleben würde, so könnte das sehr kontraproduktiv wirken. Und die EU müsste sich bis zu einem solchen Beitritt noch besser aufstellen können, um einen solchen Beitritt zu meistern.


Und Russland? Erst mal müssen wir auf die NATO (Garantie des Art V, USA) setzen, denn im Moment ist Frieden in Europa bestenfalls nur durch Schutz vor Russland / Abschreckung weiterer russischer Aggression denkbar.
Langfristig wieder mit Russland? Das hängt von der langfristigen Entwicklung in Russland ab, die derzeit völlig unberechenbar ist. Ich hätte nie gedacht, dass man noch mal so was wie das Politbüro vermissen könnte, aber da gab es ein Korrektiv statt Herrschaft eines einzelnen.


NATO -und- die EU für unsere Sicherheit?

Im Moment wohl beides, mit einem gestärkten European pillar in NATO. Aber auch bedenken, dass es schon mal einen US-Präsidenten gab, der die NATO nicht wertschätzte, also gleichzeitig mehr in europäische Kompetenzen bei Sicherheit und Verteidigung investieren. Ich glaube, wir müssen derzeit zweigleisig fahren, auf Sicht, mit Tatkraft und auch Hoffnung, aber ohne Naivität, was Putin angeht.
Das Ganze kann sich noch länger hinziehen und wird von uns allen einen langen Atem erfordern.
 

Dirk Brengelmann ist Senior Fellow des CASSIS, Botschafter a.D. und Lehrbeauftragter an der Universität Bonn mit den Schwerpunkten Sicherheitspolitik und Multilateralismus.

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