Prof. Dr. Ulrich Schlie bewertet den schwierigen Start von Friedrich Merz als Kanzler nicht als Staatskrise, aber als deutliches Anzeichen politischer Instabilität. Dass so viele Abgeordnete im ersten Wahlgang ausscherten, sei nicht nur ungewöhnlich, sondern brandgefährlich. Er kritisiert das Abstimmungsverhalten scharf, da es geeignet sei, die Umsetzung eines gemeinsam beschlossenen Koalitionsvertrags zu torpedieren – und warnt vor Wiederholungen bei künftigen Abstimmungen.
Schlie betont die Verantwortung der Fraktionen, interne Einigkeit herzustellen und die eigenen Egos hinter strategischer Geschlossenheit zurückzustellen. Vertrauen sei das Fundament jeder erfolgreichen Koalition – wie schon das Beispiel Barzel/Schmidt in den 1960er Jahren zeige. Die neue Regierung müsse nun beweisen, dass sie diese Brüche überwinden könne.
Der Politikwissenschaftler stellt außerdem klar: Die Ära der politischen Behaglichkeit der alten Bundesrepublik sei vorbei. Angesichts zunehmender internationaler Unsicherheiten erfordere heutige Politik mehr Mut, Klarheit und Handeln im Ungewissen. Die Regierungsfähigkeit werde künftig maßgeblich davon abhängen, ob es gelingt, tiefgreifende inhaltliche Differenzen – etwa in der Migrationspolitik – diplomatisch zu überbrücken.